Am Feste des höchsten Wesens, 8. Juni 1794, hatte Robespierre die Funktion, eine riesige Gruppe von Atheismus, Ehrgeiz, Genußsucht, Zwietracht und falscher Einfachheit anzuzünden; als dieselbe zusammensank, kam, freilich etwas geschwärzt, eine Statue der Weisheit zum Vorschein.
Jacob Burckhardt, Die Allegorie in den Künsten /1/

Ich ergötze mich an der Vorstellung, daß die Menschen bald einmal das Lesen satt bekommen werden und die Schriftsteller dazu, daß der Gelehrte eines Tages sich besinnt, sein Testament macht und verordnet, sein Leichnam solle inmitten seiner Bücher, zumal seiner eigenen Schriften, verbrannt werden. Und wenn die Wälder immer spärlicher werden sollten, möchte es nicht irgendwann einmal an der Zeit sein, die Bibliotheken als Holz, Stroh und Gestrüpp zu behandeln?
Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen /2/


Aby Warburg ist eine Ikone der Kunstwissenschaft. Manche halten ihn (und nicht Erwin Panofsky) für den Begründer der modernen Ikonologie, die zuvor als Ikonografie ihr bescheidenes Dasein fristete. Sein Leben ist bei Wikipedia hinreichend beschrieben.

Jetzt hat ein Redaktorenkollektiv eine Studienausgabe von Schriften Warburgs in Auswahl vorgelegt. Das Editionsprinzip wird nicht ganz durchsichtig: … der Maßstab für die Auswahl [ist] die Stellung der einzelnen Studien in der Genese seiner kunstwissenschaftlichen Methode und der dafür signifikanten epistemischen Bilder, heißt es etwas gestelzt in der Einleitung der Herausgeber (S. 26).
Auf sieben Sachgruppen sind Schriften, Briefe, Tagebücher, Vorträge und Fragmente verteilt, die uns den ideellen Fortschritt Warburgs vor Augen führen. Jeder Abteilung ist eine detaillierte Vorbemerkung inklusive aktueller Warburginterpretation beigegeben. Die textkritische Methode der Ausgabe ist über jeden Zweifel erhaben, der Anmerkungsapparat umfangreich und das Personenregister akkurat. Außerdem ist ein (zu kleinformatiger) Schwarz-Weiß-Bildteil jener Kunstwerke beigefügt, auf die Warburg Bezug nimmt.

Die Herausgeber betonen Warburgs Modernität. Durch neue Betrachtungsweisen und Wortschöpfungen sei er zum Wegbereiter der neologischen Kunstwissenschaften geworden.
Seine Termini entstehen in der wilhelminischen Ära. Das „bewegte Beiwerk“ wirkt auf uns wie ein Reflex des Jugendstils und die „Pathosformel“ wurzelt anscheinend im Historismus, der das hohle Pathos verneint. Anders gesagt, für Warburg ist Michelangelos Malerei kein monumentaler Kitsch.

Die komplexen kunsthistorischen Studien Warburgs sind äußerst subtil und nur für den Fachmann durchgängig interessant. Die Notizen des Handexemplars seiner Thesen zur Doktorarbeit vermerken euphorisch ein bescheidenes Lob Burckhardts: die reichhaltige Schrift A. Warburgs. Dazu Warburg: Um dieses Citats willen will ich mich gerne abgerackert haben. (S. 114)
Der Laie bevorzugt die Vorträge, die für ein größeres Publikum konzipiert wurden. Besonders faszinierend sind seine Untersuchungen zum Einfluss der Geheimlehren Astrologie und Nigromantie auf die Bildsprache der frühen Neuzeit. 1913 behandelt er „Luftschiff und Tauchboot in der mittelalterlichen Vorstellungswelt“, die kurz darauf als neue Waffengattungen im Ersten Weltkrieg erscheinen werden.
Der Untergang des Zweiten Kaiserreichs 1918 und Warburgs psychischer Zusammenbruch fallen zeitlich zusammen. Bis zu seinem Tod im Jahr 1929 produziert er nur noch kleinere Arbeiten und Fragmentarisches.

Ein Extrakapitel, aufschlussreich zu lesen nicht nur für Ethnologen, bildet Warburgs „indianische Reise“. 1895/96 begibt er sich in das Gebiet der Pueblo-Indianer in Nordamerika, studiert, fotografiert und notiert ihre Rituale und Tänze. Er verinnerlicht, darin einer Modeströmung seiner Zeit folgend, die wiederentdeckte Kultur der Primitiven. Die völkerkundlichen Sammlungen der Kolonialmächte füllten sich damals mit den hölzernen und irdenen Kunstwerken der Eingeborenen der Neuen Welt, Afrikas und Ozeaniens. Die metallenen Schätze hatten die Konquistadoren schon vor Zeiten zu Kanonen gießen oder in Dublonen ummünzen lassen.

Warburgs unbestritten größte Leistung nennt sich KBW.
Das kann nicht sein, verwundern sich die altachtundsechziger Freunde der RATIONALGALERIE, liegt hier ein chronografischer Irrtum vor? Gemach, liebe LeserInnen, es handelt sich um die Kunstwissenschaftliche Bibliothek Warburg, für die er in Hamburg ein spezielles Gebäude errichten lässt. Bis zu Warburgs Tod im Jahr 1929 wächst die Bibliothek auf 60.000 Bände an. Die astrologische Teilsammlung soll die größte sein, die ein Einzelner zusammengebracht hat. Mit Hilfe bezahlter Assistenten entwickelt sich die KBW zu einer Forschungsstätte. Nach der Machtergreifung gelingt es seinen Getreuen mit Chuzpe und Devisen, Bibliothek und Archiv Ende 1933 nach England auszuschiffen. Auf diese Weise wurde die KBW der doppelten Bedrohung durch den Zugriff der Nationalsozialisten und die britische Bombardierung Hamburgs entzogen. Denn die schlimmsten Feinde einer Bibliothek sind Feuer, Wasser und Diebe.
Diese kulturgeschichtlich ausgerichtete Büchersammlung mitsamt Archiv bildete den Grundstein für das berühmte Warburg Institute, das von der University of London geschluckt wurde.

Am Ende fließt alles zusammen. Aby Warburgs Lichtgestalten waren Nietzsche und Burckhardt. Deren Reihenfolge bleibt Geschmackssache. In einer seiner späten Äußerungen befasst sich Warburg mit ihrer Bedeutung und dem Verhältnis beider zueinander. Er kleidet es in die kryptische Pathosformel: Nietzsche und Burckhardt waren Narthexschwinger. (S.699) /3/
Weder konnte Nietzsche seine Reklamierung durch die Mächte der Finsternis vorherahnen, noch durfte Warburg die Stilisierung zur terminologischen Pythia der Kunstwissenschaften erleben.
Valeriu Marcu hat das Problem auf den Punkt gebracht, als er von Lenin schrieb: Über den Körper kann der Gestorbene ebensowenig verfügen, wie über seine Lehre. Sie werden immer die Beute seiner Anhänger. /4/


Anmerkungen:
/1/ Jacob Burckhardt, Vorträge zur Kunst- und Kulturgeschichte, Leipzig 1987, S. 313
/2/ Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke in zwölf Bänden, Stuttgart 1964, Bd. II, S. 228
/3/ Soll heißen: Sie schwangen den Thyrsosstab (einen mit Weinlaub umwickelten Narthex-Stengel), die Insignie des antiken Dionysoskultes. Im hohlen Schaft des Narthex (eine mediterrane Doldenpflanze) entwendete übrigens Prometheus den Göttern das Feuer.
/4/ Valeriu Marcu, Männer und Mächte der Gegenwart, Berlin 1930, S. 79