Hat er nun oder hat der nicht, der Biermann, mit Margot Honecker, am Abend seiner Abreise der die Ausbürgerung folgen sollte, geschlafen? Das ist es was den Berliner "Tagesspiegel" am neuen Buch von Florian Havemann brennend interessiert und ob sein Vater, der Dissident Robert Havemann, denn nun für Antisemitismus gewesen war, oder doch. Mit diesem Auflagenverkaufs-Reflex wird Florian Havemann und sein Buch "Havemann" häufiger zu tun haben. Denn sie kommen alle drin vor: Biermann, Nina Hagen, Katharina Thalbach, Thomas Brasch, der Architekt der Stalin-Allee Henselmann und natürlich der Vater Havemann. Da kann es sich die gewöhnliche Qualitätszeitung natürlich nicht leisten, an diesem Schlüsselloch vorbei zu gehen. Aber der Schriftsteller Havemann bietet gar kein Schlüsselloch an, es ist ein Scheunentor das er öffnet, es ist der freie Blick auf eine wundersame Ost-West-Landschaft und auf seine nackte Brust, das Hemd aufgerissen: Das bin ich, schreibt er, und die, die ich kannte und kenne. Und er urteilt unerbittlich über alle, die sein Gedächtnis erreicht, und er schafft sich Raum für diese rigorose, moralische Arbeit, an die elfhundert Seiten, und er nimmt sich nicht aus. Wer das Buch gelesen hat - der Rezensent des "Tagesspiegels" kann kaum dazu gehören, ihn interessieren, nachlesbar, nur die "Stellen", als wäre es Pornographie - taucht aus ihm klüger auf als er hineingesprungen ist.

Es kommt daher wie eine Dokumentation, das Buch. Natürlich ist es das auch. Zugleich aber ist es romanesk im fein geflochtenen Aufbau, in der Verknüpfung von Privatem und Gesellschaftlichem, in Wertung und Bewertung, indem es die Geschichte persönlich nimmt. Wie anders sollte sie auch zu nehmen sein, war Havemann doch hineingeboren in den Ost-West-Konflikt, mit einem Vater begabt, der bei den Nazis gesessen hatte, der zum DDR-Funktionär aufstieg, zu dem was sein Sohn später als den roten Adel bezeichnete, und dessen tiefer Fall in einem zwei Jahre währenden Hausarrest mündete und in der Bedeutungslosigkeit. Bedeutend nur dann noch, wenn der Westen mal wieder einen Kronzeugen gegen die DDR brauchte. Jener Westen, der dem Vater Havemann gerne und häufig, statt der wirklichen zwei, unwirkliche zwanzig Jahre Hausarrest attestierte, so zuletzt der Professor Sauer, der Mann von Frau Merkel, der es "in der so unfreien DDR zum ordentlichen Professor gebracht hat", wie der Autor anmerkt. Es sind diese Anmerkungen, die in einem endlos scheinenden Strom von Worten, mal schneller mal langsamer fließend, immer wieder nach oben treiben und dem Fluss beträchtliche Wirbel schenken. Zu glauben wäre, dass Florian Havemann (FH) seine dicke Arbeit in einem Rutsch geschrieben haben könnte, nur kurz unterbrochen vom Schlafen und Essen, dann wieder an den Schreibtisch, so atemlos ist der Ton manchmal, so endlos scheint die Kette von Ereignissen, Personen und Stadt- wie Staatslandschaften.

Wäre ich der Lektor des Buchs "Havemann" gewesen, und natürlich ist der Literaturkritiker auch immer ein verhinderter Lektor, hätte ich dem FH dringend empfohlen, mit seinen Erlebnissen aus dem Jugendgefängnis in Luckau zu beginnen. Nicht, weil er dort als Opfer der DDR aufleuchtet und Sympathie für sich reklamieren könnte. Auch nicht, weil in der Verurteilung eines Sechszehnjährigen wegen "staatsfeindlicher Hetze", die wesentlich darin bestand während des Einmarsches der Warschauer Paktstaaten in die ÇSSR eine tschechische Fahne aus seinem Ostberliner Fenster gehängt zu haben, ein Schlüssel zu FH´s Haltung liegen würde. Sondern wegen des lakonischen, leidenschaftslosen Tones, der einfühlsamen Schilderung seiner Mitgefangenen, der normalen, unpolitischen Verbrecher, wegen des kühlen, ironischen Stils und einer Pointe, die an anderer Stelle im Buch platziert, erst hier richtig wirksam wird: Die DDR sei ein Unrechtsstaat, konstatiert FH, nicht wegen seiner vier Monate Haft, davon drei im Stasiknast, sonder wegen seiner vorzeitigen Entlassung, auf Order von Walter Ulbricht persönlich. Und eine solche, auf Beziehungen fußende Methode der Rechtsbeugung habe gegen alle Gesetze der DDR verstoßen, sei also unrecht.

Er ist eher von der grimmigen Art, der Humor des FH. Sich sieht er in einer Zensurbehörde gemeinsam mit Shakespeare, weil sein Freund, der Theatermacher Thomas Brasch, ihn dorthin versetzte, behauptend er prüfe seine Texte immer an den beiden. Es ist jener Thomas Brasch, der in einem längeren Gespräch den immerhin Staats-und Parteichef Erich Honecker bewog, ihn in den Westen ausreisen zu lassen und mehr: Er, Honecker, habe sich den Sozialismus auch ganz anders vorgestellt, als den, der sich in der DDR so nannte, sagte Honecker; das erzählt Brasch glaubhaft seinem Freund Havemann. Der eine wird, weil sein Vater ein "staatlich anerkannter Staatsfeind" ist, mit Pension und mildem Hausarrest, von Walter Ulbricht "gerettet". Der andere hat einen Vater, der dem Staatschef so nahe steht, dass er dem Sohn ein prima Ausreisegespräch vermitteln kann. Es ist diese duodezige DDR, die eine zuweilen bösartige Komik produziert. Und der junge FH, ein durchaus überzeugter Sozialist, spielt gern mit der Beschränktheit der "Organe", schlägt sie mit den offiziellen Argumenten, wenn er behauptet, die tschechische Fahne nur aus dem Fenster gehängt zu haben, weil im "ND" vom Vortag des Einmarsches von der notwendigen Solidarität mit dem tschechischen Volkes geschrieben stand. FH hatte das mit der Solidarität durchaus ernst gemeint. Unernst eher sein Vorschlag, im Jugendgefängnis Luckau eine FDJ-Gruppe zu gründen. Der wurde abgelehnt, weil im Gefängnis alle politischen Organisationen verboten seien. Das Grinsen beim Erinnern schimmert durch die Zeilen.

Wann immer es um den Vater, um Robert Havemann, geht, dessen Leben er nachrecherchiert, wird FH bitter ernst. Der ältere Havemann mochte seinen Sohn nicht, anders als den Erstgeborenen Frank H., den er vorzog, ignorierte er den kleinen Flori. Auch bei dessen Monate währenden Krankenhausaufenthalt: Kein Besuch, keine Zuwendung, nichts. Da mag FH in seinem vorliegenden Buch erzählen, es träfe ihn nicht mehr, aber die Kränkung sitzt tief, wirkt fort. "Ich bin doch sehr betroffen" schreibt der isolierte Vater an den in den Westen geflohenen Sohn, "dass Du nicht die Kraft hattest, es hier auszuhalten." Und beschwört die DDR als die Zukunft, "wofür man sterben kann". Zumindestens einen Gedankentod fürchtete der Sohn beim weiteren Verbleib in der DDR und blieb auch nicht. Der Vater hätte das eigentlich gut verstehen können. Forschte doch der von den Nazis zum Tode verurteilte Robert Havemann im Gefängnis um sein Leben: Im Zuchthaus Brandenburg setzte er noch 1944, im Auftrag des Heereswaffenamtes, seine Arbeit zur Erforschung vom Kampfstoffen, von Giftgas, fort. Das mag man verurteilen. Sein Sohn tut das nur im Zusammenhang mit dem Schweigen des Vaters, dem Verschweigen. Auch von dessen langen Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit, bevor aus dem Informanten Havemann ein Opfer wurde, hätte FH gerne vor der Wende, vor der Öffnung der Akten gewusst, er hätte mit dem Opfer Havemann anders, besser umgehen können.

Es ist das schwierige Deutschland, das mit den Geschichten um die Havemanns, weit über ein Familienepos hinaus, vorgestellt wird und das, so dramatisch vieles auch sein mag, manchmal in der Komödie landet. Ende der Neunziger bekommt FH Besuch vom Berliner Staatsschutz: Er soll den Sänger Wolf Biermann mit anonymen Anrufen, mit Morddrohungen belästigt haben. Die Beschuldigung, gestützt auf die Denunziation Biermanns, dass FH aktiv für PDS tätig sei, löst sich in Luft und Gelächter auf. Eine Feindschaft verbindet FH mit Biermann, eine Feindschaft die aus der Einschätzung FH´s resultiert, dass Biermann ein Feigling ist, einer der seine Ausreise-Ausbürgerung selbst inszeniert hatte, ihm aber in einem Lied, den Weg in den Westen vorwarf. FH ist unerbittlich, trifft er auf Unehrlichkeit. Weiss aber auch: "Der Unerbittliche kann nicht bitten, der Erbarmungslose kein Erbarmen erflehen." Und er bittet nicht, er schreibt sich die Seele frei, wird Hass auf sich laden und produziert Literatur, deren Macht er erstmals im Gefängnis entdeckt hat, als ein Sicherheitsoffizier in FH´s Tagebuch die Formulierung "Wir aßen eine langweilige Bockwurst" entdeckt hatte. Obwohl der Offizier für die Observation des Havemanns zuständig ist, kommt er ihm über die Formulierung näher, versucht den Menschen FH zu begreifen, der mehr als ein Fall ist, weil ihm plötzlich bewusst wird, dass eine Bockwurst langweilig sein kann.

Er sei "nur widerwillig, notgedrungen links", schreibt der Autor über sich und begründet dieses Linkssein mit seiner Arbeit ganz unten, im Reichsbahn-Ausbesserungswerk im Osten und als Putzmann im Westen. Er verortet Linkssein also traditionell, im Sozialen. Wer ein Buch wie "Havemann" abliefert, der muss auch gefragt werden, ob er denn politisch sei, politisch denke und sei es, um seine linke Position zu begreifen. Es gibt, trotz der ständigen Beschreibung von DDR und BRD, vom Kalten Krieg und der Sorge um den Heißen, nur eine ausdrücklich politische Stelle im Buch. FH kritisiert dort jene Leute in der PDS, "die sich gegen Michael Gorbatschow stellen. Gegen den besten Sozialisten, den es je gegeben hat". Fraglos ist die Kritik an denen, die Gorbatschow als Verräter am Sozialismus begreifen, als Auflöser der Sowjetunion und des als sozialistisch bezeichneten Lagers, völlig berechtigt. Gorbatschow war nichts anderes als Ausdruck der Geschichte, einer der das Ende der Sowjetunion nur verkündet, nicht herbeigeführt hat. Aber ihm hymnisch zu bescheinigen, dass er "den Kalten Krieg und mit dem Kalten den Dritten, den ultimativen Weltkrieg beendet" habe, dass zeugt nicht von politischem Blick. Gorbatschow war ein Geworfener, einer der eine Konkursmasse zu verwalten suchte, darin mag sein Verdienst liegen, mehr nicht. Aber wer, wie FH, einen Blick für den Alltag im Gang der Geschichte hat, wer wie der Autor die babylonische Kulturverwirrung seiner Kreuzberger Nachbarschaft sprachlich ebenso eindringlich zu gestalten weiß, wie er die Grenze zwischen den USA und Mexiko gegen die Berliner Mauer halten kann, ohne kitschig zu werden, dessen literarische Kraft reicht allemal aus, dem Leser den Sinn für das Gesellschaftliche zu schärfen. Die Wahrscheinlichkeit, dass alle Käufer Florian Havemanns Buch bis zur Seite 1092 lesen ist eher gering. Aber erwerben sollen sie das Werk, denn Havemann kann Geld brauchen und Anerkennung auch. Sie steht ihm zu.

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