Zwei Söhne, aufgewachsen in zwei unterschiedlichen Systemen, einmal Ost, einmal West. Zwei verlorene Kinder, zwei Bücher. Der aus dem Westen, Andreas Altmann schreit in seinem Buch "Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend" seine ganze Wut über seine Familie in die Welt. Der aus dem Osten, Peter Wawerzinek, trauert in seinem Buch "Rabenliebe" eher still und poetisch über den Verlust der Mutter und seine bedrückende Zeit als Schein-Waise in einer Adoptionsfamilie. Zwei Bücher, zwei verlorene Kinder, zwei Leben in Literatur gebannt.

Kannte die Horde, kannten die ersten Formen menschlichen Zusammenlebens Eltern-Kind-Beziehungen? Ganz sicher kannten die Kinder dieser Zeit ihre Väter nicht. Dass Wissen darum wie denn die Kinder entstanden, wer denn nun genau der Vater ist, hat sich erst spät entwickelt. Zu beobachten ist diese vaterlose Zeit bis heute in den Naturgesellschaften, die mutterrechtlich organisiert sind. Mit den Kindern der ersten Viehzüchter und Bauern, als es etwas zu vererben gab, beginnen die Eltern-Kindbeziehungen intensiver zu werden: Söhne sollten den Hof übernehmen, Töchter reich heiraten. In späteren Zeiten wurden die Kinder des Adels und der reichen Bürger den Dienstboten übergeben, Vater und Mutter hatten anderes zu tun. Erst die Moderne kennt die romantische, liebevolle Eltern-Kind-Beziehung, die von den beiden Autoren eingeklagt wird. Es ist eine Klage um den Fortschritt.

In Andreas Altmanns Buch ist er der Bub, dessen Vater ein wichtiges Devotionaliengeschäft im Wallfahrtsort Altötting besitzt, der Erbe. Zugleich aber ist er der Sklave, der Kinderarbeiter, der Prügelknabe. Und trotz der geballten Wut, die aus den Zeilen quillt, versucht der Autor Gründe zu finden für die Gewalt des Vaters gegen Mutter und Kinder: Der dreckige Krieg könnte es sein, überlegt er, der Vater war in SS-Uiform in Russland und in Polen gewesen, Verrohung und Verbrechen haben ihn wahrscheinlich geprägt. Doch so, wie der Sohn nach Erklärung sucht, so wächst seine Erbitterung. Wie sollte er auch die Nazi-Zeit als Entschuldigung begreifen.

Immer und immer wieder setzt Peter Wawerzinek Medienberichte über geschundene Kinder in sein Buch: Erwürgte Säuglinge, verwahrloste Kleinkinder, das tote Baby im Kühlschrank, wo verdammt ist die Elternliebe, fragt das immer noch trauernde Kind, das im Schriftsteller sitzt und nicht selten weint. Und wie zur Beschwichtigung, wie gute Mütter ihren Kindern kleine Lieder und Verse summen wenn sie verletzt sind, zitiert Wawerzinek ständig Kinderreime: "Eia popeia, was raschelt im Stroh, das sind die lieben Gänschen, die haben kein Schuh." Wo seine Mutter ist, die ihn und die Schwester verwahrlost zurückließ, als sie aus dem Osten in den Westen ging, das weiß er nicht. Aber er wird sie suchen und, am Ende des Buchs, auch finden.

Von "Gottgläubigen" erzählt Andreas Altmann, "die schon in ihrer Kindheit von dem Hirngespinst erledigt worden waren, dass einer oben saß und die Strafen verteilte, die sie `verdienten´. Es ist die bigotte, katholische Atmosphäre in Altötting, da ist sich Altmann sicher, die zu seinem Elend als gnadenlos disziplinierter, unterdrückter Junge einen wesentlichen Beitrag geleistet hat. Er erinnert, dass Bayern erst 1980 das Prügeln an den Schulen abgeschafft hat und und erst im Jahr 2000 im Bürgerlichen Gesetzbuch den Kindern ein Recht auf gewaltfreie Erziehung garantiert wurde, um wegen dieses so spät eingeführten Kinderrechts "ein Jahr lang die Prügelstrafe für Politiker" zu verlangen. Spät kam Altmanns erfolgreicher Aufstand gegen die Vatergewalt, die verdruckste bundesdeutsche Nachkriegszeit, aber er hallt nach, unüberhörbar.

Einmal schreibt Wawerzinek über seine Zeit im staatlichen Heim: "Der Staat ist mein Kummerflügel. Das Heim ist meine Achselhöhle. Ich komme ohne Vater und Mutter aus. Das Heim ist die annehmbare Alternative." Und wer dann mit ihm in die DDR-Lehrerfamilie, zu seinen Adoptiveltern geht, die ihn als Einrichtungsstück, als Ausweis ihrer gesellschaftlichen Tauglichkeit halten, der kann sein Urteil über das Kinderheim teilen. Mitten in der Traurigkeit findet der Autor manchmal heitere Passagen. So, wenn der Heranwachsende sich in den amerikanischen Bürgerrechtler Malcolm X träumt: "Malcolm X wäre, von seiner Mutter zum Abschiedskuss gezwungen, nicht Malcolm X geworden", sinniert der Junge über die nie endende Formalisierung der Beziehungen, die ihm "Mutti" auferlegt. Ob man Anfang der 60er in Altötting von Malcolm X wußte, und wenn, für wen hätte der Farbige dort als Idol getaugt?

Zwei Bücher, zwei Leben, zwei Systeme. Doch das Unterdrückungsmoment in den Lebensläufen ist deutlich älter als die Staaten DDR und BRD. Es wird aus den großen deutschen Kriegen kommen, aus der Uniformzeit, der militärischen Gewalt nach innen und außen. Zwei sehr verschiedene, sehr berührende Bücher: Wo der eine, Altmann, das Fenster öffnet und aller Welt sein Kinderelend trotzig vorträgt, öffnet Wawerzinek sein Fenster, um Einblicke zu geben, in die verzweifelte Stille einer Jugend. Beide Autoren wären so gern, so bedingungslos geliebt worden. Beide Autoren klagen an: Jene Gesellschaft, die das Wichtigste, das Beglückenste, das Schönste und Zarteste was wir haben mit Gewalt erzieht. Sie klagen an, weil wir eine andere Welt brauchen, für uns und unsere Kinder.