Man soll immer und überall auf Enttäuschungen, starke, schmerzliche Enttäuschungen gefasst sein.
Sacher-Masoch, Die Liebe des Plato

Als ich gestern aus dem Wolkenbruch in das klimatisierte Redaktionsgebäude der RATIONALGALERIE flüchtete, liebe LeserInnen, war alles anders als sonst. Unser Chefredakteur, Herr Gellermann, hatte sich in den Urlaub begeben. Im Konferenzzimmer erwartete mich im Chefsessel thronend sein Stellvertreter Herr N. Enn, nicht wie üblich im dunklen Nadelstreifen, sondern mit Hawaiihemd und Bermudashorts angetan. Die Sekretärin, sonst keusch gehüllt in ein burkaähnliches Folkloregewand mit bordiertem Halsausschnitt, hockte in Minirock und Minitop da, unmenschlich gebräunt, und hatte den Fuß auf das Knie unseres Stellvertretenden gestellt, um sich die Zehennägel schwarz zu lackieren!
Auf dem Schreibtisch, dort, wo sonst Herr Gellermann den Pressekodex immer griffbereit hat, lag die Bildzeitung so gefaltet, dass die nackten Tatsachen unübersehbar waren. Wenn die Katze außer Haus ist, machen die Mäuse Tabledance!
"Hereinspaziert, alter Indianer", rief der Stellvertretende reichlich locker, "wir kämpfen gerade mit Sauwetter und Sauregurkenzeit.", und tätschelte die Sekretärinnenwade.
"Der Alte hat sich nach Malle abgesetzt, und wir dürfen hier Moos zwischen den Zehen ansetzen. Da hast du ordentlich Schweinkram zur Rezension."
Er fasste unter die Bildzeitung und zog ein dickes Paperback hervor, das er mir gönnerhaft hinwarf. Es hatte ein gestanztes Ochsenauge im Umschlag, aus dem der Titel "Shades of Grey" glotzte. Darunter in Pink: "Geheimes Verlangen".
"Hurtig, Rothaut", sagte der Stellvertretende zu mir, "wir müssen das Sommerloch stopfen." Er blinzelte der Sekretärin zu und winkte mich aus dem Zimmer. Ich verstaute die Scharteke im Büchersack und dachte wieder einmal darüber nach, warum der Stellvertretende unausgesetzt Indianerscherze mit mir macht.

Das Nachfolgende, liebe LeserInnen, ist für die Leserinnen unter unseren LeserInnen geschrieben, weshalb ich nunmehr auf die römische "I" gendermäßig korrekt verzichten werde.
Jahrtausende lang wurde Pornografie für Männer geschrieben. Die Handlung war weitgehend reduziert, um maximalen Koitus auf einem Minimum an Seiten unterzubringen. Damit kann man unsere Leserinnen nicht begeistern. Auch die technische Beschreibung, wie Mann die Wasserpumpenzange einsetzt, um einen Keuschheitsgürtel zu knacken, macht sie nicht an. Und die ganze sexistische Folterscheiße von de Sade bis Abu Ghraib ist ihnen zuwider.
Die erotische Wende für die Frau kam mit dem 19. Jahrhundert, als Leopold Ritter von Sacher-Masoch in der Novelle "Venus im Pelz" nicht nur tüchtig peitschen ließ, sondern endlich auch modische Accessoires und Psychologie einbaute. Sie findet ihren vorläufigen Höhepunkt in EL James Bestseller "Fifty Shades of Grey", dessen erster von drei Bänden nun in Deutsch vorliegt.

Die Story ist unglaublich rührend und spielt dazu passend im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Der siebenundzwanzigjährige Selfmade-Milliardär Christian Grey und die um einiges jüngere Studentin Anastasia Steele verlieben sich bis über beide Ohren in einander. So etwas kommt sehr selten vor, denn Milliardäre sind bekanntlich uralt und abgezockt, wie Hr. Aldi etwa oder Mr. Burns, und diensteifrige Praktikantinnen gibt’s wie Sand am Meer.

Normalerweise ist es so, dass Milliardäre die Ölpreise regulieren und Steuern sparen. Denkt nur an J. R. Ewing oder Chodorkowski, liebe Leserinnen. Unser Jung-Milliardär dagegen tut unentwegt Gutes. Er lässt andauernd Lebensmittel über Afrika abwerfen. Unglaublich, aber wahr: Fresspakete satt statt Streubomben.
Und Grey ist mit allem ausgerüstet, was einen Milliardär begehrenswert macht, vom Sportwagen über den Privatjet bis zur salamiartigen Füllung der Boxershorts und dem Dauergeruch nach edlem Duschgel. Jawohl, er sieht urgeil aus, ist zwei Meter groß, spielt traumhaft Klavier, spricht fließend Französisch, fliegt perfekt Helikopter und macht Kohle ohne Ende. Womit, wird übrigens nicht verraten, damit die Leserinnen nicht zu Nachahmungstäterinnen werden. Aber er hat ein dunkles Geheimnis, doch dazu kommen wir noch.

Miss Steele gibt dem Roman die weibliche Erzählperspektive. Außerdem macht sie gerade ihren Abschluss in Literaturwissenschaft und liebt Thomas Hardy und die Brontë-Schwestern mehr als sich selbst. Wenn das nicht pervers ist… Damit nicht genug trägt sie an einem Minderwertigkeitskomplex als hässliches Entlein, der schwerer wiegt als zwei Sumo-Ringer. Deshalb ist sie auch noch unberührt. Als sie in Stellvertretung Mr. Grey für die Studentenzeitung interviewt, funkt es zwischen beiden.
Die Defloration geht zwar flott über die Bühne, aber dann läuft die Sache aus dem Ruder. Mr. Grey hat nämlich eine übelst schwere Kindheit und Jugend gehabt und leidet darum unter seelischen Defekten. Erstens ist er Stalker, zweitens Kontrollfetischist und drittens neigt er zum Sadismus. Es handelt sich hierbei nur um abgesoftete, vertragsmäßig geregelte Gewalt, aber wie andere Milliardäre auch gönnt sich Mr. Prügelpeitsch eine Folterhöhle im Appartement.

Den ellenlangen Vertragstext aus juristischem und SM-Fachchinesisch erspare ich unseren Leserinnen, ebenso das ausführliche Verzeichnis der abartigen Spielzeuge. Die Flagellationsinstrumente sind ohnehin kaum übersetzbar, denn Engländer züchtigen auf höchstem Niveau. Die Bondagematerialien vom Kabelbinder übers Sisalseil bis zur handbemalten Seidenkrawatte können einen Entfesselungskünstler verzweifeln lassen. Das Sado-Paradies strotzt von Pritschen, Sofas, Andreaskreuzen und weiß der Geier was allem noch. Kein Wunder, dass Miss Steele den Sklavenhaltervertrag nicht ratifiziert.

Ansonsten lebt der Bericht der Miss Steele von Eifersüchteleien, Selbstzweifeln und anderen Verwicklungen, die die Liebenden zeitgemäß mittels Laptop oder BlackBerry als E-Mail oder SMS austragen. Trost spenden ihnen Designerklamotten, Markenkrempel und die von handgreiflichen Argumenten begleiteten intensiven Kopulationen. Die detailreich beschriebenen Streicheleinheiten, Züchtigungen und Orgasmen lassen das Buch auf 600 Seiten anschwellen.
Der erste Band der "Fifty Shades of Grey" nimmt ein melancholisches Ende, das ich unseren Leserinnen vorenthalten muss. Nur so viel sei verraten, es hat mit einem Milliardärshosengürtel und der Kehrseite von Miss Steele zu tun.

Wenn ihr aus dem Tiefdruckgebiet nicht in den sonnigen Süden flüchten dürft, liebe Leserinnen, sondern eure Pflicht im düstern Germanien erfüllen müsst, dann erheitert euch in den Mußestunden an den Schattierungen des Graus. Oder lasst euch von mir aus den Hintern versohlen.