Dagegen hat Schiller, der, unter uns, weit mehr ein Aristokrat war als ich, der aber weit mehr bedachte, was er sagte, als ich, das merkwürdige Glück, als besonderer Freund des Volks zu gelten.
Goethe zu Eckermann, 4. 1. 1824 /1/
Daß Schiller heute, bei uns, der gesuchteste Drehbuchautor für Mord- und Räubergeschichten wäre, kann doch nur ein Denkfauler oder ein Germanist abstreiten.
Arno Schmidt /2/
Alle fünfzig Jahre wird der Fünfjahrplan der Schiller-Experten neu aufgelegt. So haben pünktlich zum 200. Todestag Rüdiger Safranski und Siegrid Damm Biografien verfasst und Friedrich Dieckmann hat uns den jungen Schiller dargereicht. Heuer zum 250. Geburtstag interpretiert Safranski die Freundschaft zwischen Schiller und Goethe neu und Dieckmann präsentiert den erwachsenen Schiller. Durch geschicktes Googeln lässt sich gewiss noch ein Haufen brandneuer Bücher über Schiller entdecken. Handelt es sich nur die übliche Jubiläumsschreiberei? Nein, es steckt mehr dahinter!
Jede Epoche drechselt sich die passgerechte Schillerfigur. Bald nach dem Tod des Dichters schreiben sein Freund Körner und seine Schwägerin Caroline von Wolzogen private Erinnerungen in bester Biedermeiermanier. Otto Brahm, der Mitbegründer der Freien Bühne Berlin, liefert den vaterländischen Schiller des zweiten Kaiserreichs (unvollendet). Reinhard Buchwald gibt 1956 die Endfassung seiner zweibändigen Biografie, die bei Insel in West und Ost erscheint. Nach der humanen Katastrophe beschäftigt ihn Schillers Menschentum. Mehrere Wagenladungen anderer Schillermonografien könnten in dieses Entwicklungsschema eingestellt werden. Mittlerweile sind wir 50 Jahre weiter und leiden unter einem wesentlichen Mangel. Was uns im vereinten Europa noch gefehlt hat, ist der Blick auf Schiller den Europäer.
Diese Lücke zu füllen ist Friedrich Dieckmann angetreten. Auf „Diesen Kuß der ganzen Welt!“Der junge Mann Schiller aus dem Jahr 2004 folgt aktuell „Freiheit ist nur in dem Reich der Träume“ Schillers Jahrhundertwende. Das Buch handelt Schillers Leben zwischen 1789 und 1801 ab. Da ich vermute, dass Schiller heute noch deutscher Schulstoff ist, erspare ich unseren LeserInnen die nackten Fakten. Es zerfällt in zwei Hauptstücke, die separiert werden durch Vorspiel, Zwischenspiel und Nachspiel. Vor- und Zwischenspiel wurden auch typografisch abgesetzt, das Nachspiel allerdings nicht. Das gibt uns zu denken.
Wie einst H. A. Korff den „Geist der Goethezeit“, versucht heute Dieckmann den Geist der Schillerzeit zu destillieren. Die Realien kommen mitunter etwas zu kurz. Wer die Kürze mag, aber Genaueres zu den Lebensumständen wissen will, kann auf Gero von Wilperts „Schiller-Chronik“ zurückgreifen, aus der unser Autor ziemlich wörtlich Schillers Hochzeit entnimmt.
Mit der bald darauf folgenden Anekdote über den Erfurter Galetti (sic!) stimmt etwas nicht. Der Geschichtsschreiber schrieb sich bekanntlich mit zwei „l“, und war fast 40 Jahre Gymnasialprofessor in Gotha, nicht in Erfurt. Die Seiten 77 bis 80 bedürfen der Überarbeitung, ebenso das Personenregister, das zu Galletti auch noch falsche Seitenzahlen angibt.
Weil nun einmal Schillers bloßes Dasein keine Folianten füllt, greift der Autor zu der Aushilfe der Werksanalyse und Interpretation, unterfüttert mit Abstechern in die Personen-, Geistes- und Zeitgeschichte. Manches Näherliegende kommt zu kurz. Zwar erfährt der Leser, dass Schiller die Hemmung der Aufklärung mit der Klassenfrage verbindet. (S. 157) War es nicht doch die Gretchenfrage?
Dagegen bleibt der einzige Brief Kants an Schiller – wohl der Ritterschlag für den begeisterten Kantianer – unerwähnt, in dem Kant die Mitarbeit an Schillers Monatsschrift ablehnt, weil, da Staats- und Religionsmaterien jetzt einer gewissen Handelssperre unterworfen sind, es aber ausser diesen kaum noch, wenigstens in diesem Zeitpunkt andere die grosse Lesewelt interessierende Artikel gibt, man diesen Wetterwechsel noch eine Zeitlang beobachten muss, um sich klüglich in die Zeit zu schicken. /3/
Der bedeutende Briefwechsel mit dem Freund Wilhelm von Humboldt ist nicht einmal im Literaturverzeichnis erwähnt. Ersatzweise behandelt der Autor ausdauernd Fichte, dessen Einfluss auf Schiller marginal war. Bereits Heine hat für die in Jena entstandene „Wissenschaftslehre“ nur Spott übrig. Fichtes Methode mahnt uns an den Affen, der am Feuerherde vor einem kupfernen Kessel sitzt und seinen eigenen Schwanz kocht. Die wahre Kochkunst besteht nicht darin, daß man bloß objektiv kocht, sondern auch subjektiv des Kochens bewußt wird. /4/
Als das Erste Hauptstück abgeschlossen ist, folgt das „Zwischenspiel“, ein endloser innerer Monolog über Gott und die Welt. Freilich ist es Friedrich, aber ist es Schiller, oder doch eher Dieckmann, der hier vor sich hin grübelt?
Das Zweite Hauptstück enthält ausufernde Explikationen zum „Wallenstein“. Einmal hat sich der Autor vertan. Wir lesen sehr verwundert, Johannes Kepler habe Wallenstein im Horoskop von 1608 ein gewaltsames Ende für das Jahr 1634 vorhergesagt (S. 242). Tatsächlich wurden mindestens 70 Lebensjahre in Aussicht gestellt. „Vom 47. bis ins 52. wollen wir anfangen, an Gütern, Autorität und Ansehen trefflich zuzunehmen…“ Diese Zeit werde überhaupt die glücklichste in Wallensteins Leben werden. In Wirklichkeit wurde es die kritischste. Im Alter von 51 Jahren wurde er ermordet. /5/ Astrologen werden an dieses Horoskop nicht gern erinnert.
Immerhin wird im Zweiten Hauptstück sehr vergnüglich das Gewurstel im weimarischen Kleinstaat geschildert, das Hineinregieren der Staatsmacht in die Belange der Kunst. Mit der Rezension eines Theaterstücks kann man leicht den Intendanten kränken, der zugleich Staatsminister ist. Vorsichtige Kritiker legen deshalb ihre Werke seiner Exzellenz Herrn von Goethe zur Begutachtung vor. Was mag Horst Köhler dabei denken, falls er sich heute die RATIONALGALERIE reinzieht?
Einige Ansichten des Autors sind vom Röhrenblick der Klassikrezeption getrübt. Gottfried August Bürger ist kein großer Dichter. (S. 55) Zusammen mit Herder … bildet Jean Paul in Weimar so etwas wie einen linken Gegenpol gegenüber dem Doppelgespann Goethe und Schiller. (S. 259) Jean Paul der Humorist, der Dichter der kleinbürgerlichen Idylle, kannte die politischen Begriffe Lechts und Rinks noch gar nicht, mit denen Dieckmann eifrig etikettiert. Das kam erst mit der Restaurationszeit in den französischen Kammern auf und leitete sich ab von der Sitzordnung der politischen Parteien zu beiden Seiten des Präsidenten.
Schließlich hebt das „Nachspiel“ an, in dem Dieckmann die merkwürdige Frage stellt: Wie mag sich der Kantianer Schiller anno 1801 die Entstehung der Arten vorgestellt haben? (S. 409) Der beste Satz des Buches steht ausnahmsweise am Ende: Schiller hat das Meer nie gesehen.
Zuletzt eine bescheidene Anfrage an die Damen und Herren Verleger vom Insel Verlag: 34 Euro für ein Buch auf dünnem Papier mit Klebebindung im Pappeinband, erscheint Ihnen das nicht etwas heftig?
Für unsere Schiller-Biografien-SammlerInnen empfiehlt es sich daher, das preiswerte Paperback-Update in der verbesserten EU-Version 2.0 abzuwarten.
Anmerkungen
/1/ Goethes Gespräche, Neu herausgegeben von Flodoard Frhr. v. Biedermann, Leipzig 1910, Bd. 3., S. 61
/2/ Jörg Drews & Co., Dichter beschimpfen Dichter, Haffmans 2006, S. 199
/3/ Briefwechsel von Immanuel Kant, Georg Müller 1913, Bd. 3, S. 67
/4/ Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. Werke und Briefe, Aufbau 1980, Bd. 5, S. 275
/5/ Rudolf Drössler, Planeten Tierkreiszeichen Horoskope, Koehler & Amelang 1985, S.132 f.
BUCHPREMIERE
Am 17. 11. 09, 20.00 Uhr
Akademie der Künste Berlin
Pariser Platz, Plenarsaal