Der Historiker Eric Hobsbawm bewegt sich immer noch. Das ist bei einem Denkmal ungewöhnlich. Denn der 1917 in Alexandria geborene Wissenschaftler ist der Doyen unter den Marxisten, sein intellektueller Ruhm umweht ihn wie ein langer Mantel, die Zahl der Ehrendoktortitel ist Legion und er könnte den Kaiser von Indien noch persönlich gekannt haben: "Als ich ein Kind war, war der König von England auch noch der Kaiser von Indien, die Welt bestand zum großen Teil aus Monarchien, Kaiser- und Kolonialreichen. Und fast alle sind flöten gegangen." Nun hat sich der außergewöhnliche Mann mit einem weiteren Buch in der langen Kette seiner vielen Publikationen zu Wort gemeldet: "Wie man die Welt verändert" lautet sein Titel und es ist ein anspruchsvolles Marx-Lesebuch geworden.

„Marx ist tot, Jesus lebt!“ rief 1989 Bundesarbeitsminister Norbert Blüm Danziger Werftarbeitern zu. Damals werkten dort noch 20.000 Kollegen, jetzt sind es nur wenig über 2.000. Diese Zahlen markieren nicht nur die Niederlage und das Ende des damals existierenden Sozialismus, sondern zugleich auch einen globalisierten Kapitalismus, der am Ende seiner Weisheiten ist. Aus dem Verschwinden des "staatsoffiziellen Sozialismus" zieht Hobsbawm einen Gewinn: Er befreie den Marxismus davon mit einem System identifiziert zu werden, in dem - wie Engels prophetisch formulierte - der Staat und seine Organe "aus Dienern der Gesellschaft zu Herren derselben" verwandelt werden.

Zur Ironie der Geschichte gehört, dass die berühmte Danziger Werft, von der aus die Gewerkschaft Solidarność dem realen Sozialismus das Totenglöckchen läutete, inzwischen zwei Oligarchen aus der Ukraine gehört, die ihren Besitz unter anderem mit Mitteln der EU restrukturierten: Good-bye Staatssozialismus, Hello Globalismus. Der letztere ist es, den Hobsbwam in geradezu "unheimlicher Weise" im "Kommunistischen Manifest" - vor mehr als 150 Jahren - vorgezeichnet und analysiert sieht. Der Autor erinnert sich daran, wie er bei einem Mittagessen den Spekulanten George Soros traf, der ihm versicherte, dass Marx "etwas über den Kapitalismus herausgefunden (habe), das wir zur Kenntnis nehmen müssen." Es hätte kaum des Zeugnisses des Finanzakrobaten bedurft, um diesen Hobsbawm-Satz zu formulieren: "An erster Stelle ist es die Einsicht (der marxistischen Analyse) in die unaufhaltsame globale Dynamik der kapitalistischen ökonomischen Entwicklung, ihre Fähigkeit, alles zu zerstören was sie vorfindet."

Glaubt man den Feuilletons der gebildeten Stände, dann findet das aktuelle Wehren gegen den globalen Kapitalismus wesentlich rund um "Occupy" oder die "Indignados" statt. Es sind durchweg sanfte Bewegungen, denen die Mainstream-Medien weitgehend mit Sympathie begegnen und deren Vernetzung keineswegs der internationalen Organisation ihrer Gegner entsprechen. Neben Stephane Hessel mit seinem gefühlvollen Buch lässt sich nur ein weiterer Theoretiker dieser Gruppierungen erkennen: David Graeber, der die aktuelle Finanzkrise nicht für ein wirtschaftliches, sondern ein moralisches Problem hält und glaubt, dass Kommunismus nichts mit dem Besitz an Produktionsmitteln zu tun habe. Zwar treibt der Kapitalismus auf ein Schrecken ohne Ende zu, aber sein Ende ist - angesichts des aktuellen dekonzentrierten Widerstandes - kaum abzusehen.

Mit der marxistischen Theorie, so erinnert Hobsbawm, ging zugleich auch die Geburt und Organisation einer weltweiten alternativen Bewegung einher, die im privaten Besitz an Produktionsmitteln sowohl die Ursache von Ausbeutung und Krieg begriff, also auch in der Veränderung der privaten Besitzverhältnisse den wesentlichen Akt der Befreiung sah. Dass die Arbeiterbewegung - inzwischen selten revolutionär und organisatorisch in den letzten Jahren abschmelzend - allein in Deutschland immer noch über sechs Millionen Gewerkschaftsmitglieder verfügt, gibt einen Hinweis auf jene Potenziale, die aus dem hinhaltenden Widerstand in die so dringend nötige Veränderung der Gesellschaft einbezogen werden können.

In einer Tour d´ Horizont nimmt Hobsbawm seine Leser auf eine Reise durch den Marxismus mit, während der er das "Kommunistische Manifest" neu entdecken lässt: Dessen Voraussage, nach der das kapitalistische System die Familie zerstöre, sieht er u. a. mit der hohen Zahl der Singles belegt und subsumiert die Logik des Manifestes mit dem Zitat einer anderen Marxistin: "Sozialismus oder Barbarei". Wenn der Autor über den weltweiten Einfluss des Marxismus schreibt, dann fallen ihm seltene Fakten ein: Wie die zweite "Alija", die Auswanderung von russischen Juden nach Palästina um 1905, die dem Staat Israel marxistisch geprägte Gründerväter bescheren sollte. Oder eben auch das Geläufige, dass die große sozialdemokratische Bewegung ihre wesentlichen Denk-Anstöße von Marx und Engels bezogen hat, wovon die deutsche Sozialdemokratie höchstens in Sonntagsreden noch wissen will.

Als "work in progress" habe Marx sein Werk begriffen, schreibt Hobsbawm, und warnt vor jeder Dogmatisierung des Marxismus, um in einem eigenen Kapitel auf einen marxistischen Modernisierer einzugehen: Antonio Gramsci, jenen kommunistischen Theoretiker, der in der Turiner Rätebewegung eine herausragende Rolle spielte und dem die Erringung der kulturellen Hegemonie die Voraussetzung dafür ist, dass eine bisher "subalterne Klasse" sich als "potentiell herrschende Klasse glaubt." Es war ein anderer Marx, Reinhard Marx, Erzbischof von München und Freising, der bei der Vorstellung seines Buches "Das Kapital" zu sagen wusste: "Er (Karl Marx) hat vorausgesagt, dass ein primitiver Kapitalismus zur Gefährdung für die Welt werden kann. Insofern ist die Warnung von Johannes Paul II. berechtigt: Wenn sich eine radikale kapitalistische Ideologie ausbreitet, wird der Marxismus wieder lebendig." Zwar hat Karl Marx nie von "primitivem" Kapitalismus geschrieben und der jetzige Finanzkapitalismus ist hoch entwickelt, aber sonst ist die Sorge des Bischofes und die päpstliche Warnung durchaus berechtigt.