US-Präsidenten genießen die Freiheit, als Vollstrecker des imperialen Erbes zu handeln - nicht jedoch, dieses Erbe als die erdrückende Bürde zu behandeln, zu der es geworden ist.
Norman Birnbaum

Man muss sich das so vorstellen: Irgendwann saß Joscha Schmierer, ein Mann der zwei Außenministern der Bundesrepublik treu gedient hatte (von 1999 - 2007, erst unter Fischer, dann unter Steinmeier) in einem Arbeitszimmer und sorgte sich um seinen Bedeutungsverlust. Aber da Schmierer in all den Jahren seiner politischen Karriere immer mal wieder eine Idee hatte, kommt ihm auch jetzt eine: Er erfindet "den Westen" neu. Das macht man am besten, indem man ein Buch schreibt: "Keine Supermacht, nirgends - Den Westen neu erfinden" so lautet der Titel des bei Wagenbach verlegten Bändchen. Und es ist ein schöner Beleg für Allmachts-Fantasien und den Versuch, Fakten so lange zu bearbeiten, bis sie in eine vorgefasste These passen.

Schmierer glaubt, in Beobachtung der letzten 20 Jahre, feststellen zu können, dass es keine Supermacht mehr gibt: Nach dem Verschwinden der Sowjetunion, dem Aufstieg neuer Mächte wie der EU, Chinas oder Indiens, sei nun die letzte verbliebene Supermacht, die USA, nicht mehr konkurrenzlos. So gelangt der Autor zur Kenntnis einer Nicht-Polaren Welt, die nach "globaler Integration" verlange in deren Verlauf "der Westen" neu erfunden werden müsse. Für den Sandkasten-Strategen, der vormittags Mächte und Staaten hin und her schiebt, um nachmittags sein Werk als gut erfunden zu betrachten, spielt der Inhalt seiner schönen neuen Welt natürlich keine Rolle: Wird sie weiter durch das Profitprinzip geprägt sein, durch die Jagd nach Rohstoffen, durch lokale Kriege und den Krieg gegen das Klima? Mit solchen Kleinigkeiten hält sich Schmierer nicht auf.

Nicht zu Unrecht erinnert der Autor daran, dass die bis 1989 vorhandene Bi-Polarität der Welt eine gewisse Friedensgarantie sicherte, in der die gegenseitige atomare Abschreckung den Preis für einen Krieg so hoch ansetzte, dass die Supermächte USA und Sowjetunion lieber darauf verzichteten. Weil er aber am Ende seines Buches eine gute Weltordnung herbei schreibt, in der die USA immer noch eine Rolle spielen soll, unterzieht er die Vereinigten Staaten einer kurzen Weißwäsche: Sie hätten eigentlich von sich aus keine "Neigung und Fähigkeit zur imperialen Herrschaft", schuld sei die Block-Konfrontation gewesen, da seien die Staaten halt so reingeschliddert. Die Kolonisierung der Philippinen (von 1899 bis 1902, etwa eine Million Filipinos kamen dabei um), die Besetzung Kubas, Puerto Ricos, die gewaltsame Öffnung Japans: Alles imperiale Akte, lange bevor es die Sowjetunion gab, sie fallen Schmierers Geschichtsumdeutung ziemlich komplett zum Opfer.

Während also die gute USA eigentlich keinerlei Neigung zum Imperialismus verspürt, trägt die "Russische Föderation im Inneren weiterhin imperiale Züge", erfährt der erstaunte Leser. Dachte er doch bisher, dass Imperialismus ein klassischer Begriff der Außenpolitik sei. Mit solch schwachem Begriffs-Vermögen gerät Schmierer an die These von Francis Fukuyama, der 1989 das "Ende der Geschichte" verkündete. Und weil ihm die These gut passt, die Wirklichkeit aber eine andere ist, bricht er eine selten originelle Lanze für den US-amerikanischen Politik-Wissenshaftler: "Fukuyamas Behauptung wird durch die Präferenzen der Meinungen bestätigt, die in vielen Teilen der Welt vertreten werden." Mit dieser neuen wissenschaftlichen Argumentation kann man auch das Glücksspiel als Weg aus der Krise empfehlen: In vielen Teilen der Welt, zumal an Börsen, findet es schließlich eine Präferenz vor ehrlicher Arbeit.

Im Verlauf der zielgerichteten Neu-Erfindung des Westens als Ordnungsmacht trifft Schmierer auf die UNO, die ja alles mögliche ist aber nicht der Westen, also im Wege steht: "Offensichtlich hat die UNO ein Problem, ihren Beschlüssen Geltung zu verschaffen", bemerkt der Autor und fährt fort: "Wenn die USA unter diesen Umständen auf ihre Verantwortung pochen . . . erliegen sie einerseits der Verlockung der einzig verbliebenen Supermacht . . . doch reagieren sie auch darauf, dass globale Ordnungsmacht gefordert ist." Kein Wort davon, dass die USA zu gerne UNO-Beschlüsse ignorierte und sabotierte. Sie können einem schon leid tun, die Vereinigten Staaten: Ständig verlockt und gefordert, geraten sie immer wieder mal an eine "imperiale Versuchung", so oder so ähnlich ist sicher auch der Irak-Krieg entstanden, den der Schmierer 2003 als "konsequente Weltinnenpolitik" bezeichnete.

Man kann nicht umhin, dem Autor eine sonderbare Form von Mut zu attestieren: Rund sieben Jahre nach Beginn des Afghanistankrieges bescheinigt er den USA in diesem Zusammenhang einen plausiblen "Akt der Selbstverteidigung" , mag die Existenz von "Schurkenstaaten" nicht in Zweifel ziehen und sorgt sich einverständig um die "globale Ordnungsmacht", die zu dieser imperialen Anmassung "nicht von wirtschaftlichen Interessen oder und übermäßiger Macht" gebracht worden sei, "sondern von dem Gefühl, bedroht zu sein." Natürlich hat Schmierer auch das Gefühl, dass eine "Verstärkung des Personals in Afghanistan" dringend notwendig sei. An solchen Stellen ist es diese kaltblütige, menschenfeindliche Sprache, die den Autor als Stammtisch-Funktionär der Macht ausweist, für den Krieg und Tod nichts anderes sind als eine Personalfrage.

Schmierers Auslassungen über die zwei Irak-Kriege unterschlagen seine zustimmende Haltung ebenso, wie den bedeutsamen Vorläufer dieser Kriege. Den des Irak gegen den Iran, ein Krieg den die USA mit Waffenlieferungen, Spionage-Flügen und diplomatischer Deckung auf der Seite des Irak befeuerte. Das würde ja nicht in sein Konzept des "neuen Westens" passen, in dem die USA, begleitet von der EU, eine neue, irgendwie nette Weltordnung installieren soll. Deshalb kann der Autor den "Krieg gegen den Terrorismus" auch nicht als imperiale Phrase begreifen, hinter der sich Demokratieabbau und Größenwahn nur mühsam verbergen ließ. Wohl deshalb klang es ja auch Schmierers Meinung nach "nicht unsympathisch", wenn Bush verkündete: `Die Freiheit die wir meinen, ist kein Geschenk Amerikas an die Wellt, sondern Gottes Geschenk an die Menschheit". Wer so etwas zustimmend zitiert, den sollte man nicht einmal geschenkt annehmen.

Zu schlechter Letzt bricht er dann durch, der neue Westen: "Seinen politischen Sinn bekommt der Zusammenhalt des Westens (meint USA und die EU) jetzt durch die Rolle des Westens für den Zusammenhalt der globalisierten Welt". Dieser Sprachdunst entspräche zur Gänze der Rolle der Bedeutung, die sowohl als Rolle vorwärts wie als Rolle rückwärts zu deuten wäre, gäbe es nicht einen sachdienlichen Hinweis: Um zum gewünschten "symbiotischen Verhältnis zwischen den USA und der EU" zu kommen, bedarf es, folgt man dem vorliegenden Buch, nicht nur einer gemeinsamen Außenpolitik der EU. Sondern auch eines "Hohen Beauftragten" für diese Außenpolitik. Fast hundert Seiten braucht Schmierer, um seine Schrift als Bewerbungsschreiben für seinen ehemaligen Chef, Joschka Fischer, kenntlich zu machen. Und wenn Fischer, dem er ja auch früher diese oder jene Idee eingeblasen hatte, dann EU-Außenminister geworden ist, dann wird sich sicher auch ein warmes Plätzchen für Joscha Schmierer finden.