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Zu Beginn seines Essays nennt der Autor die elementaren Gründe, deretwegen politisch rechtschaffen denkende Menschen nach dem zweiten Weltkrieg ein einiges Europa schaffen wollten: "Wenn es nun gelingen sollte, aus dieser Misere herauszukommen, dann musste dies so geschehen, dass sich die Katastrophen, die der Nationalismus und die Interessenkonflikte der Nationen produziert hatten, nicht mehr wiederholen können." Sprechen wir wirklich von der selben Katastrophe? Die Vernichtung von Millionen KZ-Häftlingen durch Arbeit wäre von Interessenkonflikten der Nationen hervorgebracht worden? Der arisch-germanische Rassismus, das imperialistische Rüstungsprogramm der Achsenmächte Deutschland, Italien, Japan könnte mit Nationalismus verwechselt werden ?
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Der Autor offenbart sich ebenfalls als produziert, nämlich vom österreichischen Bildungswesen der Nachkriegszeit. Wofür der aus der schwarzbraunen Ostmark stammende Führer symbolisch steht, der sog. Nationalsozialismus, das darf im verschwommenen Denken nicht mit Klarnamen genannt werden: Faschismus - vor allem eine Funktion des großen Kapitals. Was unter seiner Parole Volk ohne Raum als Expansionsdrang enthalten war: Eroberung von Wirtschaftsräumen, Vereinnahmung von Rohstoffen, Gewinnung von Arbeitssklaven - das bleibt selbstverständlich ungenannt.
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Wenn ich richtig gezählt habe, kommt bei Menasse auf über hundert Seiten zweimal das Wort Kapital vor. Begriff und Realität Kapitalismus gibt es im ganzen Essay kein einziges Mal, ebenso wenig wie etwa die Rede von Konzernen, gar multinationalen wäre. Deregulierung: Fehlanzeige! (Die Übersetzung dieses Euphemismus´ als Privatisierung gibt es einmal en passant - selbstverständlich auch nur ohne die dazu gehörige Profitmaximierung.) Worüber eigentlich redet der Autor?
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Als Kinder malten wir Häuser, wie sie für uns zu sehen waren: mit allem, was man oberhalb der Erdoberfläche steht. Erst als Heranwachsende begriffen wir, dass es aufs Fundament ankommt. Ein Schriftsteller, der uns Gesellschaften auf der Ebene der Ideologie erklären will, ist auf der Kindheitsstufe stehengeblieben, die man fälschlich naiv nennt. Seine Soziologie ist infantil.
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Es wäre reizvoll, einen Dichter blauäugig durch Brüssel wandern zu lassen - als Simplicius Simplicissimus, als Candide, Häuptling Papalagi. Deren Urheber haben die Einfalt ihrer Protagonisten raffiniert benützt, um ihrer Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten. Menasse jedoch gelingt es, blind durch die EG-Metropole zu stolpern. In seiner Ziellosigkeit vermag er nicht einmal mit dem, was ihm zufällig begegnet an Spielmaterial, etwas anzufangen. Seine groteske Begegnung mit einer leitenden Dame aus dem Kulturressort bleibt selbstgefälliges Feuilleton.
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Hat der Citoyen Menasse schon einmal davon gehört, dass die Brüsseler Gesetze unter weitgehendem Einfluß der Multis gemacht werden? Hat der Demokrat schon gehört vom gemeinwirtschaftlichen Anspruch auf elementare Lebensmittel wie Wasser versus private Vereinnahmung für den Profit? Weiß der angeblich aufgeklärte Zeitgenosse, dass höchste Beamte in den einschlägigen europäischen Behörden beim Wasser-Konzern Veolia unter Vertrag standen oder stehen? Ist in Menasses Elfenbeinturm schon einmal der Name des Agrarkonzerns Monsanto vorgedrungen, der mit genmanipulierten Nutzpflanzen und deren Patentierung weltweit Landwirtschaften unter enormen Gesundheitsrisiken zerstört und seine Interessenvertreter längst auch in den europäischen Lebensmittelbehörden placiert hat? Nein - unserem tumben Tor ist in Brüssel offenbar kein einziger Lobbyist begegnet. Mit der Berufung auf Büchner nimmt Menasse den Mund sehr voll. Dass dessen eine Motto-Hälfte Krieg den Palästen hieß, das haben sie in der Schulzeit unseres Europa-Landboten wohl weggelassen.
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Minima non curat praetor - um Kleinigkeiten kümmert der Chef sich nicht. Wie er sich, unter Gesichtspunkten der Brüsseler Gesetzgebung, nicht das Wasser genauer anschaut oder meinetwegen die Schlachtvieh-Transporte, den Genmais - so blickt der Schriftsteller, dessen Beruf ihn eigentlich elementar zur Konkretion verpflichtet, kaum irgendwo genauer hin. Von der massiven, zugunsten von Agrarkonzernen vorangetriebenen Zerstörung kleinbäuerlicher Strukturen in Portugal bis zur zynischen Duldung eines rassistisch-nationalistischen Regimes, greifbar nah, in Ungarn - Menasse begegnet Europa ungern in hässlicher Form, lieber doch von oben. Griechenland zumal böte vielfältige Gelegenheit, immerhin das aufzurollen, worum es vor allem dann ginge, wenn man über Konzerne, Profit und Lobbyisten gesprochen hat: enorme Widersprüche in den Kulturen Europas selbst ebenso wie zwischen ihnen. Kein Wort davon - außer ein bisschen wohlfeiler Philohellenismus, den Medien nachgebetet.
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Menasse ist leider ein schwacher Denker und ohne jede Begabung zur Dialektik. Wer auf hundert Seiten Text nicht mehr mitzuteilen hat als die Banalität, dass Europa gut ist und Brüssel besser als sein Ruf, der hat gar nichts mitzuteilen. Die Kunst verzeiht ihren Adepten keine Schwäche: für einen Essay zu wenig scharfsinnig, als Journalismus grottenschlecht recherchiert, für Dichtung zu flach und für ein Pamphlet zu lahm – sackt das Machwerk über seiner hausgemachten ästhetischen Nes-Theorie von den angeblichen "Vorabend-Romanen" in sich zusammen. Mithilfe eines Kalauers, der Hegels dialektischen Begriff der Aufhebung durch den des Untergangs peinlich karikiert, werden krass unterschiedliche Epochenenden wie das der monarchischen Reiche Europas 1918 oder das von Battistas Kuba zu verheißungsvollen Neubeginnen erklärt. (Bezeichnenderweise nimmt der angebliche Europäer drei von sieben empirischen Beispielen dafür aus dem alten Österreich, zwei stammen aus Deutschland.) Ein solcher Vorabend-Roman müsse, so Menasse, angesichts der Geburt des neuen Europa aus dem "Untergang" der Nationalstaaten jetzt unbedingt neuerlich entstehen – und wir, die Leser, würden angeblich seine Helden sein. Ich als Leser verzichte indes gern aufs Mitspiel als Heroe- während ich dringend hoffe, dass die Drohung des Autors, er wolle diesen Roman selbst schreiben, sich nicht erfüllt.
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Wenn ich diesen angeblichen Essay von Menasse lese, so muß ich mit Wehmut an die Wiener Caféhäuser denken und all jene Literaten, die sie bevölkerten, vor allem zwischen den beiden Weltkriegen: ein Anton Kuh, ein Peter Altenberg, Alfred Polgar, Karl Kraus, Egon Friedell und viele andere mehr. Meist vom jüdischstämmigen Bürgertum eines vormaligen Großreichs geprägt, also Österreicher und Europäer in einem, kämpften sie mit künstlerisch und kunstvoll gesetzten Worten scharfsinnig und geistreich gleichermaßen gegen Nationalismus und Rassismus (wie wir wissen, vergeblich). Wer dieses Erbe so leichtfertig verschleudert wie Menasse, hat Strafe verdient. Hätte ich sie zu verhängen, so müsste er Büchners Anklage der politisch-sozialen Verhältnisse des feudalen Deutschland im Hessischen Landboten - auf den er sich ebenso großspurig wie nichtssagend bezieht - Satz für Satz auf Brüssel und die EG übertragen. (Übrigens keine ganz schwere Arbeit.)
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Büchner: "Das Gesetz ist das Eigentum einer unbedeutenden Klasse von Vornehmen und Gelehrten, die sich durch ihr eigenes Machwerk die Herrschaft zuspricht. Diese Gerechtigkeit ist nur ein Mittel, euch in Ordnung zu halten, damit man euch bequemer schinde; sie spricht nach Gesetzen, die ihr nicht versteht, nach Grundsätzen, von denen ihr nichts wisst, Urteile, von denen ihr nichts begreift. Unbestechlich ist sie, weil sie sich gerade teuer genug bezahlen läßt, um keine Bestechung zu brauchen." Herr Menasse, übernehmen Sie!