Ein Art krankhaftes Misstrauen, eine Art Furcht, sich mit dem abzufinden, was so ganz anders ist um ihn herum, das völlige Unvermögen einzusehen, dass ein Russe nicht gänzlich zum Deutschen werden kann und man daher nicht alles mit einer Elle messen darf, sowie schließlich die offene oder versteckte, in jedem Fall aber grenzenlose Überheblichkeit den Russen gegenüber – das ist kennzeichnend für nahezu jeden Deutschen in seinen Ansichten über Russland.
Fjodor Dostojewski

Wir erfahren fast täglich aus den Medien, liebe LeserInnen, dass Russlands Regime allen Gepflogenheiten westlicher Demokratie Hohn spricht. Man stelle sich einmal vor, Angela Merkel hätte die deutsche Geldaristokratie zum Kaffeekränzchen ins Kanzleramt geladen und spräche: „Die Schwaben sind meine treuesten Wähler und ich habe beschlossen, ihre Residenz mit einem modernen Bahnhof aufzuwerten. Deshalb bitte ich alle Anwesenden um milde Gaben.“
Würden da die Milliardäre nicht vor Lachen und Altersschwäche aus den Sesseln fallen?
Wenn ein bedeutendes öffentliches Vorhaben (wie die Tieferlegung eines Bahnhofs) ansteht, kann man schließlich eine Verbrauchssteuer erhöhen (bei Bahnanlagen logischerweise die auf Tabakwaren) und alle Prekarier dürfen sich glücklich schätzen, ihre Obolen zu dem Unternehmen beizusteuern.
Der Despot Putin hingegen, als er seine Heimatstadt St. Petersburg zur 300-Jahrfeier auf Vordermann bringen musste, versammelte die Oligarchen im Kreml, wo sie an einem runden Tisch auf Zahnarztstühlen festgeschnallt wurden, und noch ehe seine SFB-Schergen die Bohrer aufheulen ließen, erklärten sich die Anwesenden begeistert bereit, die verfallenen Schlösser und Kirchen an der Newa aufzumöbeln. Angeblich hat man sogar die Termine gehalten.
Das ist eine zutiefst undemokratische Vorgehensweise, weil dadurch weder Steuergelder verschwendet noch Immobilienspekulanten bereichert werden. Russland ist der weltweit einzige Staat, der die Menschenrechte von Milliardären verletzt.

Christina Eibl hat als Ländergeschäftsführerin drei Jahre in Russland residiert, in der Höhle des Bären sozusagen. Denn es ist als Tapferkeitsauszeichnung gedacht, wenn einen Gruner + Jahr nach Moskau delegiert. Nur Chisinau (Moldawien) und Ulan-Bator (Mongolei) gelten in der Medienbranche als noch ehrenvoller. Aber unsere Autorin missversteht diese Sendung gründlich. Sie empfindet ihr Auserwähltsein als Strafe.
Die Erfahrungen mit der gefühlten Verbannung hat sie in einem Buch verarbeitet, das den barocken Titel trägt: „Nicht alle Russen haben Goldzähne, sind immer betrunken und auch nicht jeder russische Beamte ist korrupt“. Der Mitleid heischende Untertitel lautet: „Ein Überlebensbericht aus dem Herzen Moskaus“. Unsere LeserInnen ahnen schon, dass hier die nackte Wahrheit enthüllt wird, in Form journalistischer Horrorstorys.

Natürlich ist Christina Eibl in der teuersten Stadt der Welt nicht etwa angetreten, um den Profit des Verlagshauses zu maximieren. Sie will lediglich mit Hochglanzmagazinen die an asiatisch-mongolische Traditionen gewöhnten Russen für unsere westeuropäische Werbekultur begeistern. Aber brauchen die den Promi-Klatsch?
Sie ziehen sich an wie wir, sehen aus wie wir, sie gehen shoppen, trinken Starbucks Coffee, tragen Escada und Nike, fahren Porsche Cayenne – auf den ersten Blick ist alles klar: Die Russen sind zivilisierte westliche Wesen. Wie wir.
Von wegen!
Selbst der Russe hält es im eigenen Land nicht lange aus.
Wie wir.

Wer mit der russischen Volkssitte des Nachrichtenaufblasens vertraut ist, liebe LeserInnen, die von BILD und „The Sun“ kümmerlich genug kopiert wird, der weiß: Wenn auf Kamtschatka ein kleines Mädchen mit dem Dreirad einen Regenwurm überfährt, heißt es zwei Wochen später in Moskau, ein Riesenpython sei aus dem Zoo in Wladiwostok ausgebrochen und habe in einer Schule sieben Kinder und den Hausmeister verschlungen. Zur Illustration diene ein Witz aus der Sowjetzeit. Anfrage an den Sender Jerewan: Stimmt es, dass der Bürger Iwan Iwanowitsch in der Lotterie einen Lada gewonnen hat? Antwort: Im Prinzip ja. Aber erstens war es kein Auto, sondern ein Fahrrad, und zweitens hat er es nicht gewonnen, sondern es wurde ihm gestohlen.

Christina Eibl steckt also bis über beide Stilettos in einer modernen Sagenwelt und vermengt bedenkenlos russische Fabulierkunst mit der Realität. Wer Glamourmagazine macht, hat eben ein ganz spezielles Verhältnis zur Wahrheit.
Ein Beispiel.
Fahrer Jurij kommt reichlich spät zur Arbeit. Die deutsche Chefin nimmt ihn ins Gebet und was muss sie hören? Oma wurde beim Autobusfahren in der Tür eingeklemmt und drei Kilometer mitgeschleift. Dann hat’s ihr am Strommast ein Bein abgerissen. Der Jurij hat sie im Krankenhaus besucht.
Hier fehlt ein kurzer Hinweis wie der: Das erklärt auch seinen hochprozentigen Atem.

Ein anderes Beispiel.
Jurij: „Ludmilla wollte einen Tag frei nehmen, aber der Chef hat’s nicht genehmigt.“
Christina: „Und warum ist sie jetzt im Gefängnis?“
Jurij: „Sie hat eine Bombe auf dem Klo gezündet und ist gegangen.“
Kein Kommentar.
Da kriegt der deutsche Arbeitgeber das kalte Grausen, auch wenn’s nur eine Stinkbombe war. Ja, haben die denn keine Gewerkschaft, die den kommunistischen Volkszorn gegen die Unternehmer kanalisiert?

Der tägliche Kampf mit den Mentalitätsunterschieden schlaucht die Verlegerin. Die russische Arbeitsmoral liegt am Boden. „Der Russe“ hält kein noch so mildes Mobbing der Geschäftsführung aus und ist auch nicht wirklich teamfähig. Anstatt sich für die Streitkultur zu schinden, schmiert er seine Kündigung auf einen alten Kassenbon und ward nicht mehr gesehn.
Denn die Russen lieben das Wohlleben mehr als die tägliche Arbeit. Sie sind zu faul zum Streiken und wollen nicht im Frost vor dem Verlagsgebäude Schilder schwenkend Trillerpfeife blasen. Stattdessen verbünden sie sich gegen ihre Chefin heimtückisch im Kollektiv.
Die russische Regenbogenpresse hat noch viel Arbeit zu leisten, bis ihre LeserInnen ähnlich entsolidarisiert sind wie die Deutschen.

Nun ist Christina Eibl aber auch promovierte Historikerin und kann uns genau erklären, warum Russland ein Steppenimperium ist und weshalb die Russen ein orientalisch-barbarisches Landvolk sind. Das ist seit tausend Jahre so und hat irgendwie mit den Mongolenstürmen zu tun. Ich entschuldige mich vorsorglich und in aller Form für Frau Dr. Eibl bei den Mongolen. Was können denn die Mongolen dafür, wenn die Russen mehr Wodka trinken, als ihnen gut tut?
Das deutsche Zerrbild von den Slawen, wie es Christina Eibl anscheinend bei ihren Geschichtsstudien eingetrichtert bekam, hat allerdings eine lange, bis ins Mittelalter zurückreichende Tradition.

Am Ende ihres Buches verrät uns die Autorin, wonach sie sich in Moskau sehnt: Zurück nach Europa. Nach Hause. Natürlich – das ist es! Back to the EU – heute feiern in Rom auf dem Bacchanal des Medienmoguls und morgen journalistische Teilhabe im korruptionsfreien Großraum Brüssel.

Die hohe Kunst der Zeitungsschreiberei hat ein durchaus amüsantes, aber etwas unappetitliches Pamphlet hervorgebracht, das strotzt von eurozentristischer Arroganz.
Nun erwirbt sich Christina Eibl ihre Meriten wieder in der Heimat und wir warten gespannt auf das nächste Buch: Nicht alle Deutschen haben Tattoos, grölen am Ballermann und auch nicht jeder deutsche Politiker ist Lobbyist.