"Hartz IV-Mutter ermordet ihr Baby." So würden wohl die Schlagzeilen der Boulevardblätter lauten bei einem Fall wie dem der 24-jährigen Jasmin. Darunter käme ein kurzer Text, der die Tat Jasmins detailreich schildert, ergänzt vielleicht um das hochnäsige „Ist ja kein Wunder bei solchen Leuten“ einer eilig befragten Nachbarin. Doch diese Jasmin gibt es nicht, ihr „Fall“ ist nur die Verdichtung hunderter ähnlicher Fälle von Kindstötung, die der Drehbuchautor Christian Lyra für Jan Fehses zweite Regiearbeit "Jasmin" recherchiert hat. Solch gründliche Recherche nimmt jedem Einzelfall alles Spektakuläre, Schlagzeilenträchtige. Mehr noch: Fehse und Lyra schieben jedem Voyeurismus einen Riegel vor, indem sie die eigentliche Tat völlig aussparen und sich nur auf das vier Tage währende Gespräch konzentrieren, das die vom Gericht bestellte Psychiaterin Dr. Feldt mit Jasmin führt, um deren Tatmotive und Schuldfähigkeit zu ergründen.
Exploration heißt das in der Behördensprache, so als handelte es sich um die Erkundung profitabler Lagerstätten von Kohle oder Erdöl. Hinter solcher Herrschaftssprache scheint sich anfangs Dr. Feldt zu verschanzen, und auch ihre „Patientin“ gibt nur sehr zögernd ihre defensive, misstrauische Haltung auf. Das eher unbeholfene Deutsch Jasmins – "sie hatte ein Loch im Herz", sagt sie über die Krankheit ihrer Tochter Franziska – unterstreicht diesen spannenden sozialen Kontrast. Doch aus dem Oben-Unten des Anfangs wird bald ein offenes Psychoduell, aus der spröden Gutachterin eine sensible Frau mit durchaus eigenen Problemen und aus der Täterin Jasmin eine Art weiblicher Hiob, deren Schicksal, nicht deren Tat unser Mitgefühl fordert.
Von Jasmins Biografie und ihrer Tat selbst erfahren wir wenig: Mit 17 hat sie die Schule geschmissen, um mit einer Band auf Tour zu gehen, was ihre Mutter ihr immer noch nachträgt. Als Jasmin mit Franziska schwanger wurde, hat sich ihr Freund Benno aus dem Staub gemacht. Ein Café, mit dem sie wirtschaftlich auf die Beine kommen wollte, wurde eine Pleite, und Franziskas Herzkrankheit war ohne Krankenversicherung bald nicht mehr zu bezahlen. Als ihr die Probleme über den Kopf wachsen, will sie aus dem Leben gehen und, so sagt sie, Franziska "mitnehmen". Ihr Suizidversuch scheitert, nun ist sie eine Kindsmörderin.
Ein Kammerspiel also, ein Zwei-Personen-Stück ohne viel Handlung im immer gleichen Raum, das auch auf Musik und optische "Effekte" verzichtet, ist sicher nichts fürs action-gewohnte Popcornkino. Als Kinofilm ist "Jasmin" sicher ein Wagnis, und schon dafür verdient er Lob. Doch Fehse versteht es, sogar aus der Reduktion Hochspannung zu erzeugen, und wer sich auch nur fünf Minuten auf sein Psychoduell eingelassen hat, kommt nicht mehr von ihm los. Der Grund: eine Besetzung, für die das Wort Sensation keine Übertreibung ist. Anne Schäfer, bisher vor allem von der Bühne bekannt, zieht als Jasmin alle stimmlichen und mimischen Register und ist im leidenden Schweigen fast noch ergreifender als in ihren seltenen Gefühlsausbrüchen. Wiebke Puls, Star der Münchner Kammerspiele, weiß als Dr. Feldt hinter der "amtlichen" Fassade jederzeit ein feines Gespür für die Ambivalenz ihrer Gutachtertätigkeit anzudeuten. In einer deutschen Filmlandschaft, in der zweitklassige Fernsehstars zum Maß der Darstellkunst zu werden drohen, sollte man sich dieses Filmjuwel nicht entgehen lassen.
Kinostart: 14. Juni