Lange Zeit war die Nation, die deutsche, ein unbekanntes und trotzdem von allem Möglichen besetztes Gebiet: Die Bundesrepublik betrachtete sich als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches, ließ sich doch damit der territoriale Anspruch auf die die verlorenen Ostgebiete und die DDR aufrecht erhalten. Und die DDR, die kategorisch erklärte, sie habe mit der Nazi-Vergangenheit ein für allemal Schluss gemacht, schnitt sich anfänglich die historischen Wurzeln der Nation ab, um dann erst später Luther, dann den großen Fritz und sogar Bismarck zu entdecken und ein wenig für sich zu reklamieren. Jetzt ist die Nation zu besichtigen: Im Deutschen Historischen Museum im Berliner Zeughaus, Unter den Linden.

Mehr als achttausend Exponate auf rund 8000 Quadratmetern, das ist viel Gesammeltes und wenn die Ausstellung, konsequent längs der Zeitschiene entwickelt, mit den Germanen beginnt, so vergisst sie keineswegs die Kelten und erst recht nicht die Römer: So beginnt die Geschichte der Deutschen als europäische Geschichte. Keineswegs aus Verlegenheit, um sich vor dieser wirklich nicht einfachen Nation zu drücken, sondern vom historischen Faktum ausgehend. Diese Linie, die Deutschen nicht zu isolieren, sie historisch dort zu verorten wo sie sich kulturell und politisch fast immer befanden, in Europa, behalten die Ausstellungsmacher geradlinig bei.

Nun hat uns der kluge Philosoph Jürgen Habermas, als nach 1990 die Debatten rund um die vereinigte Nation fieberten, uns angeraten, nach Ausschwitz aus der Nationalgeschichte auszusteigen und uns statt dessen als Weltbürger für Menschenrechte zu engagieren. Aber man kann aus den Faktischen nicht aussteigen, auch wenn man wollte. Das Faktische wird im Deutschen Historischen Museum mit einer unglaublichen Fülle von Haptischem präsentiert: Büsten und Waffen, Schriften und Münzen und Bilder, immer wieder Bilder. Wer denn die Germanen und die Römer passiert hat, wird mit Karl dem Großen, den wir nicht nur in Aachen stets als den unseren feiern, erinnert, dass die frühe Reichsgründung von Frankreich ausging. Und auch das heilige römische Reich einen König hatte, der ursprünglich aus der Schweiz kam und seine Hausmacht im heutigen Österreich fand, dort, wo die Habsburger bis 1806 alle römischen Kaiser stellten.

Damit sich kein Besucher der Ausstellung eine reine deutsche Nation schnitzen kann, wird er mit einem wunderschönen, riesigen türkischen Zelt, das zu jener Zeit hergestellt wurde, als die Türken vor Wien standen und Ungarn besetzt hielten, darauf aufmerksam gemacht, dass auch Ungarn zeitweilig zu einem Vorläufer des Deutschen Reiches gehörte. Es versteht sich, dass mit dieser Konzeption die französische Revolution großen Ausstellungs-Raum einnimmt und nicht nur, weil Teile des noch gar nicht existierenden Deutschen Reiches temporär zu Frankreich gehörten. Sondern, weil, zum zweiten mal nach den Römern, den Deutschen zivilisatorische Hilfe aus dem Ausland gegeben wurde: Die Aufklärung war primär ein Importartikel.

In all dem Lob, das man den Ausstellungsmachern zollen muss, schwimmen auch Fragen: Warum unter der Kapitelüberschrift »Wege zum Nationalstaat« im Wesentlichen der Weg zum Deutschen Kaiserreich über den Norddeutschen Bund, die Düppeler Schanzen und den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 reich bebildert und die `48er Revolution in einem anderen Kapitel als Vorab-Geschichte behandelt wird, kann nur aus einer ziemlich konservativen Geschichtsauffassung erklärt werden. Ohne die Nationalversammlung in der Paulskirche, ohne das tätige Pathos der Nationalrevolutionäre die von preußischen Truppen "zu Rastatt auf der Schanze" blutig geschlagen wurden, wäre die Einigung des Reiches von oben nicht möglich gewesen.

Dieser kaum merkliche konservative Grundton setzt sich dann mit der Darstellung der Weimarer Republik fort, deren Ende man, wie häufig und falsch, aber immer wieder gern erzählt, auf die Auseinandersetzungen zwischen KPD und NSDAP reduziert. Zur Erwähnung der 1932er Wahl des Reichspräsidenten Hindenburg mit den Stimmen der SPD, die man getrost als Sargnagelwahl für Weimar bezeichnen darf, kann sich das Deutsche Historische Museum erst gar nicht aufschwingen, sie findet nicht statt.

Zwar bleibt das europäische Begreifen deutscher Geschichte erhalten, wenn der spanische Bürgerkrieg und die Beteiligung der Nazi-Legion Condor auf der Seite des Putschisten Franco dargestellt wird. Aber dass sich der deutsche Widerstand gegen Hitler erstmalig in den internationalen Brigaden auf der Seite der spanischen Republik formierte, ist mit nichts und gar nichts ausgestellt. Eine ähnliche Verengung des historischen Gesichtsfeld ist noch einmal bei der `68er Bewegung zu bemerken, die als nur studentische Erscheinung begriffen wird. Auch wenn der »Aufstand der Söhne« nicht weit vom »Verschweigen der Väter« stattfindet, bleibt ein Zusammenhang aus. Nicht gesehen, kaum erwähnt ist die nicht-studentische, außerparlamentarische Oppostion. Verschwunden die Republikanischen Clubs, die es in allen Großstädten der Bundesrepublik gab, mit ihrer Mischung aus alten Ostermarschierern, heimatlosen Linken, jungen Angestellten und gestandenen KPD-Mitgliedern. So kann die erste politische Zäsur in der West-Republik als purer Generationskonflikt gewertet werden und nichts als das, was sie wirklich war: Die bisher einzige westdeutsche, wirkliche Infragestellung des Systems.

Die Ausstellung ist reich, reich an Exponaten, reich an Geschichten, reich, weil sie ein großzügiges Bild einer Nation zeigt, die das erst sehr spät geworden ist und die immer noch ihre Sprache mit Ländern teilt, die sich ganz sicher nicht zur deutschen Nation zählen. Zu den Deutschsprachigen gehörten nicht wenige tschechische Juden, jener Zweig der österreichischen KuK-Völkerfamilie, die uns den Kafka und andere große deutsche Dichter geschenkt hat. Auch dieser für immer schweigenden deutschen Minderheit hat der polnische Bildhauer Stobierski sein Modell der »Todesfabrik« gewidmet, das alleine einen Besuch der Ausstellung zur Geschichte der Deutschen wert wäre. Denn die Singularität des Mordes an den europäischen Juden ist wesentlicher Bestand des historisch Faktischen und nur mit ihrer Anerkennung, mit der Annahme dieses mörderischen Teils unseres Erbes, ist die Nation zu begreifen und zu entwickeln.