Es ist nur eine kleine Sensation, denn der Autor Paul Léautaud ist kein Großer der französischen Literatur. Aber er hat ein Kriegstagebuch geschrieben. Über die Zeit zwischen 1939 - 1945, die Jahre der deutschen Besetzung Frankreichs. Und wer auch nur einen Hauch von Résistance erwartet hat, der sieht sich getäuscht: Der Schriftsteller Léautaud kennt nur eine Weltachse: Sich. Da sich alles andere um ihn dreht, drehen sollte, müsste, ist sein Tagebuch sensationell anders als die kanonisierte Geschichtsschreibung. Erst vor kurzem hatte die französische Öffentlichkeit mit dem Film "Die Kinder von Paris" (der Deportation französischer Juden durch die eigene Polizei) mit der Legende, nahezu alle Franzosen seien Widerständler gewesen, gründlich aufgeräumt. Falls Léautauds Buch auch in Frankreich gelesen werden sollte, wird die Debatte um französische Identität und Geschichte einen weiteren Anstoß bekommen.
"Die Einkesselung von Paris? Die Deutschen in zwei Tagen in Paris? Wie stehe ich dann da?" Fragt der in diesen Tagen 67 Jahre alte Autor, und während er acht Pakete Tabak kauft, verzeichnet er ohne sonderliche Rührung, dass "Hitler zum Panthéon gekommen" ist. Für die Juden erwartet er Schlimmes. Schön, er hält sich nicht für einen Antisemit, aber er hat doch genau mitgezählt, dass in der Regierung Blum, der des ersten sozialistischen Premierministers Frankreichs, 35 Juden gewesen sein sollen: "Da sieht man, was es bringt, Missbrauch zu treiben", hält er den Juden angesichts der zu erwartenden Repressionen vor. Von den Deutschen hat er eher eine gute Meinung: Sie benehmen sich ausgezeichnet und das Buch eines deutschen Hautmanns, Ernst Jünger, findet sein Wohlgefallen, wie er sich auch mit der Idee anfreunden kann, dass die Deutschen nach "ihrem Sieg" die Vereinigten Staaten von Europa gründen werden.
Der alte Léautaud lebt in einem Haus mit seinen vielen Katzen und Hunden, denen er mehr Aufmerksamkeit angedeihen lässt als seinen Nachbarn, er sorgt sich um sein täglich Brot und räsoniert: Die Deportation französischer Arbeiter nach Deutschland geht schon in Ordnung, was haben die auch immer die Faust geballt und "Thorez an die Macht" gerufen? Und wenn er sich die bisherigen französischen Regierungen so ansieht, dann ist er durchaus "für einen deutschen Sieg". Eine Rede von Pétain, dem obersten Kollaborateur Frankreichs, ist ihm schon deshalb gut, weil solche wie der Sozialist Jaurès nur "Durcheinander" angerichtet haben. Léautaud ist kein Faschist. Er ist der ganz gewöhnliche Petit Bourgeois, fixiert auf sich und sein bisschen dünne Literatur, die immer gleichen Gespräche in den immer gleichen Salons. Er ist so, wie nicht wenige Franzosen seiner Zeit sind. In den finsteren Zeiten der Besetzung schreibt Léautaud ausgiebig über Befindlichkeiten. In dieser Momentaufnahme liegt der Wert seines "Kriegstagebuches".
Ernst Jünger hat das "Kriegstagebuch" im Jahr 1978 mit einem Nachwort versehen. Nachdrücklich lobt er den Léautaud, indem er dessen Eigenlob zitiert: "Meine Vernunft, meine offene Redeweise habe ich uneingeschränkt beibehalten, auch den beiden deutschen Offizieren gegenüber, mit denen ich verkehrt habe." Noch peinlicher berühren sich die beiden scheinbaren Nur-Literaten, wenn der Franzose über ein verhaftetes Paar im Widerstand zetert: "Was für eine Narretei" und der Deutsche erbärmlich sekundiert, das Paar sei "verschickt" worden, als habe es sich um eine Kraft-durch-Freude-Fahrt gehandelt und nicht um eine Reise in den Tod. Vermehrt wird die Geschmacklosigkeit noch vom Herausgeber und Übersetzer des Buches, Hans Grössel, der vom Antisemiten und reaktionären Grantler Léautaud vermutet, der habe sein Herz wohl auf dem rechten Fleck. So ist das "Kriegstagebuch" eine bis ins Heute verlängerte Dokumentation über den Geisteszustand des Kleinbürgertums und findet in genau dieser Beobachtung seinen Wert.