Der heutige Tag ist
ein Resultat des gestrigen
Was dieser gewollt hat,
müssen wir erforschen,
wenn wir zu wissen wünschen,
was jener will.
Heinrich Heine
Manchmal, wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstossen - meine aktuelle Karambolage erlebte ich mit Hermann Kants "Kennung" - ist es sinnvoll, sich an die Voraussetzungen des Zusammenstoss zu erinnern. Als ich mit der "Aula" das erste Kant-Buch in die Hand bekam, bewegte sich die Westrepublik, in der ich lebte, auf ungewisse Veränderungen zu. Es war Ende der 60er Jahre. Und während in den Jahrzehnten zuvor die DDR, in der Hermann Kant zum Schriftsteller wurde, im Westen nahezu ausschließlich für eine Ausgeburt der Hölle gehalten wurde, wuchs in dieser Zeit eine Neugierde auf den Sozialismus: Den allgemeinen, wie ihn sich Marx, Engels und andere vorgestellt hatten, und den konkreten, wie er in der gemeinhin verachteten DDR zu besichtigen gewesen wäre, wenn man denn gewusst hätte dorthin zu gelangen und auch den Mut aufgebracht, das düstere, ummauerte Land eigenäugig zu besichtigen.
Die Neugierde ist eine nicht zu unterschätzende Produktivkraft. So kam mir "Die Aula", ein Buch aus der DDR und über ihre Verhältnisse, als Ersatz für den wirklichen Staat gerade recht: Die ironische, manchmal schnoddrige Sprache gefiel mir. So also setzten sich DDR-Literaten mit ihrem Land auseinander! Dann, so folgerte ich, konnte es mit der bei uns behaupteten Zensur und Unterdrückung nicht so schlimm sein. Auch gab es im sehr nahen und zugleich sehr fernen Land, erzählte das Buch, "Arbeiter- und Bauern-Fakultäten", Anstalten, die denen, die sozialer Benachteiligung wegen kein Abitur hatten, ein erhebliches Stück Bildung eintrichterten. Die hätte ich auch gern besucht. So habe ich dann den Kant schätzen und lesen gelernt: Vom "Impressum" über den großartigen Roman "Der Aufenthalt", bis zur Erzählung "Bronzezeit", von der immerhin Heiner Müller gesagt hat, sie sei "die schärfste DDR-Satire", die er gelesen habe.
Mit seinem neuen Buch "Kennung" geht Hermann Kant ziemlich weit zurück: Es handelt in einer DDR, die noch keine Mauer kannte und in der wahrscheinlich noch der antifaschistische Optimismus ihrer Gründerjahre vorherrschte. Eine Zeit also, die zu erforschen, literarisch aufzuarbeiten sehr sinnvoll sein könnte, um dem "heutigen Tag" sein Wollen im gestrigen abzulauschen. Das Wollen des Literaturkritikers Linus Cord, Alter Ego des Autors und zentrale Figur seines neuen Romans, ist darauf gerichtet, vom Rand der literarischen Debatte in ihr Zentrum zu geraten, also wichtig zu werden. Als sein aktuelles Aufstiegsmittel darf ein Aufsatz gelten, an dem er gerade arbeitet: Ein Essay über Stefan Hermlin und Ambrose Bierce, über zwei ihrer Erzählungen, über den "Leutnant Yorck von Wartenburg" und den "Vorfall an der Owl-Creek-Brücke". Beide Short Stories handeln vom jähen Tod und dem Traum von einem Leben. Doch während Hermlin seinem Adligen das strahlende Licht des heroischen Widerstandskämpfers mitgibt, stattet Bierce seinen Südstaatler mit der Bitternis des Verlierers aus. Was da gemeinsam, was trennend wäre, und dass Hermlin ausdrücklich vermerkt hat, von Bierce angeregt worden zu sein, hätte auch in Kants neuem Roman eine herausgehobene Rolle spielen können.
Doch die Hermlin-Bierce-Geschichte begegnet uns in "Kennung" immer wieder nur als Vorwand, als kleiner Erzählfaden im großen Gewebe eines Romans. Im Mittelpunkt der Kantschen Arbeit steht die Begegnung des Linus Cord mit Vertretern der Staatssicherheit. Die "Firma" möchte angeblich, dass Cord ein West-Berliner Amt aufsucht und herausbekommt, wie man an die Nummern der "Hundemarken" kommt, an jene in Blech gestanzten Erkennungsnummern, die den Soldaten damals wie heute um die Hälse gehängt werden, damit man sie auch nach ihrem Tod identifizieren kann. Auch der Soldat Cord trug einst solch ein Ding um den Hals, aber es existiert nicht mehr und wäre doch Beweis für eine Schummelei: Ohne die Marke, auf der immer auch das Geburtsdatum geprägt war, konnte sich der Literaturkritiker, der das Ende des Kriegs in Uniform erlebte, um ein Jahr jünger machen und so der Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion entgehen.
Hermann Kant gehört zu jener Generation, die den letzten großen deutschen Krieg noch selbst erlebt hat. Doch während die Stalingrad-Erinnerer sich gewöhnlich primär ihrer eigenen Leiden vergewissern, weiß Kant beharrlich um die Schuld, die auf den Deutschen lastet und um ihre Verbrechen. Auch deshalb lässt er seinen Cord ob jener kleinen Lüge beschämt sein und gibt ihm eine traumatische Erinnerung an sowjetische Kriegsgefangene mit: "An die Gesichter der in Schrecken und Qual alterslosen Männer, in denen sich alles, alle Atemnot, alle Lebensnot, alle Schmerzen des Leibes, alle Todesfurcht malte". Mehr als ein Drittel dieser Männer wurde in deutschen Lägern systematisch vernichtet. Und sie wären, an den "Aufenthalt" anknüpfend, ein eigenes Buch wert gewesen. Statt dessen bekommt die Staatssicherheit die zentrale Position in Kants Arbeit: Fraglos wäre auch sie einen eigenen Roman wert gewesen. Spielte sie doch in der Erzählzeit der "Kennung" eine bedeutende Rolle in den Fraktionskämpfen der SED, Kants Partei, und war damals wesentlich das Instrument der "Säuberungen", das Schwert zur Enthauptung jener, die andere Wege gehen wollten als Walter Ulbricht.
Natürlich erscheint der Linus Cord der "Kennung" so souverän, wie sein Schöpfer es gewesen wäre, hätte ihn die Staatssicherheit besucht: Elegant und wortmächtig tanzt er um die Stasi-Leute herum, die, wohl informiert und gebildet, tanzen um ihn, und wäre der Gegenstand nicht so ernst, könnte man von einem Stasi-Ballet, aufgeführt von der Personnage des Buchs "Kennung" unter der Anleitung des Hermann Kant sprechen. Doch bleibt das Ministerium für Staatssicherheit, auch wenn Kant es uns in seiner Auslandsaufklärungs-Variante präsentiert, eine Formation, die nicht zum Tanzen einlädt: Im Laufe seiner Existenz hat das Ministerium rund eine halbe Million inoffizieller Mitarbeiter beschäftigt, die sich selbst und ein ganzes Land kontaminierten. Das wäre ernst genug, um einen Roman, der dem MfS eine Hauptrolle einräumt, nicht in einem heiteren Ton zu komponieren und eine lustige Spiegelfechterei zu inszenieren. Das Heine-Zitat, diesem Artikel vorangestellt, steht auch auf dem Vorsatzblatt der "Aula". Den Vorsatz, die Geschichte als Material für die Gegenwart zu nutzen, scheint der Autor mit seinem jüngsten Buch aufgegeben zu haben. Das konnte der frühere Kant anders.