Ein Roman ist ein Roman ist ein Roman: Das sollte eigentlich auch für die Neuherausgabe des Romans von Bruno Apitz gelten, der 1958 erstmalig unter dem Titel "Nackt unter Wölfen" erschien und davon erzählt, wie unter den grausamen Bedingungen des Konzentrationslagers Buchenwald ein jüdisches Kind gerettet wurde: "Über die Gesichter der Häftlinge ging ein Glänzen, sie hatten lange kein richtiges Kind mehr gesehen." So steht es in der alten Ausgabe und auch in der neuen, die vom Aufbau-Verlag in diesen Tagen in den Handel gebracht wird. Und in beiden Ausgaben steht auch vom Ringen der illegalen Häftlings-Lagerleitung, die den Aufstand plant und denen, die das Kind verstecken wollen: Für die einen ist das Kind ein Risiko, das zur Aufdeckung ihrer Pläne führen könnte, für die anderen ist das Kind das kleine bisschen Hoffnung auf ein Überleben, auf kleines Stück Leben inmitten des Mordens.

Nun stehen auf beiden Seiten der kindlichen Überlebensfrage Kommunisten, auch der Autor war einer, so wie das komplette illegale Internationale Lager-Komittee in Buchenwald aus Kommunisten bestand. Das erschwerte und erschwert die Rezeption des Themas unter den Bedingungen der Bundesrepublik erheblich. Auch weil es tatsächlich das Kind gab, das vor dem Morden gerettet werden konnte und viele der wirklichen Umstände von Apitz in dessen Buch als Vorlage genutzt worden sind, hat die Kritik die Neigung, den Roman an der Wirklichkeit zu messen. Und die ist, wie sie immer ist: Differenziert. Apitz war einer der Überlebenden aus Buchwald, mit einer Sicht auf das Lager: Der seinen. Weil das so ist, und weil die Wahrheit der Bundesrepublik Kommunisten nicht einmal für gut befinden kann wenn sie tot sind, wurde schon lange an "Nackt unter Wölfen" herumgemäkelt: Für das eine gerettete Kind des Romans sei aber in der Wirklichkeit ein anderes gestorben, die Häftlinge hätten sich gar nicht selbst befreit und überhaupt sei das Buch letztlich ein SED-Propaganda-Werk.

In dieses wundersame Horn der Umwertung des wertvollen Romans tutet nun auch der Aufbau-Verlag mit der "erweiterten Neufassung" des Romans, die ein "neues Licht" auf den Welterfolg werfen soll und vor allem darauf, dass "Apitz die Rolle der Kommunisten (ursprünglich) viel konfliktiver anlegte". Das beschert dem Band unendlich viele Klammern, ein mehrseitiges Nachwort der Herausgeberin Susanne Hantke und - darüber hinaus - editorische Notizen, die uns die Klammern-Inflation erklären soll. In den Büchern der DDR gab es häufig Nachworte. Manche waren sehr erhellend, manche sollten nur erklären, wie der Leser das Buch gefälligst zu lesen habe. Frau Hantkes Anmerkungen zählen zu den letzteren. Denn in den Klammern, so Hantke, stünden all die geheimnisvollen Sachen, die der Autor entweder aus kommunistischer Selbstdisziplin oder der damalige Verlag aus ideologischen Gründen weggelassen habe, um irgendwie der Rolle der Kommunisten zu schönen, die, so muss man annehmen, in Wirklichkeit ganz anders war. Auch entdeckt Frau Hantke in einem Schulaufsatz einer DDR-Schülerin aus dem Jahr 1984, dass die von einem Besuch in Buchenwald mächtig beeindruckt war: "Viele Dinge sahen wird dort, die uns zum Nachdenken, zum Mahnen und zum Handeln anregten." Und gleich erinnert sich die Herausgeberin daran, dass "Nackt unter Wölfen" zum staatlich verordneten Schulstoff gehörte und fragt sich, ob denn die Formulierung der Schülerin ehrlich war oder nur nur die Erwartung des Lehrers wiederspiegelte. So oder so ähnlich ist die Tendenz der meisten Anmerkungen: Vermutungen, Fragen und Unterstellungen.

Zum Beispiel habe die alte Druckfassung den Begriff "Bergen Belsen", das Todeslager, das dem Kind drohte, weggelassen. Nur um die Rolle des Häftlings-Komittees, das den Jungen nicht in Buchwald lassen wollte, zu überschminken. An keiner Stelle der alten Fassung ist unklar, dass dem Kind der Tod droht, ob in Bergen Belsen oder anderswo, aber man kann ja mal versuchen das Buch in seiner alten Fassung zu diskreditieren. Und wenn das nicht reicht, dann muss die Behandlung des Buches im DDR-Schuluntericht herhalten, der jene Passage nicht behandelt habe, in der die Häftlinge das Zahngold aus den Mündern der Toten brachen. Man möchte sie schütteln, die Hantke, und ihr zurufen: Aber im Roman steht es doch ausführlich! Auch würde man ihr gern sagen, dass die Todeslager ein gesamtdeutsches Erbe sind und, wenn sie denn mal die Rezeption des Romans in Westdeutschland mit in ihre Betrachtungen genommen hätte, sie auf den Namen von Walter Krämer gestossen wäre. Apitz kannte den im KZ ermordeten Krämer und nannte eine seiner wichtigen Figuren nach ihm, um ihn zu ehren. Eine Ehre, die Krämer auch in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem erfahren hat, die ihn zu einem "Gerechten unter den Völkern" zählt, weil er 500 jüdischen Häftlingen in Buchenwald das Leben gerettet hat. Krämers Heimatstadt Siegen, die nicht wenige Straßen nach verdienten Nazis benannt hatte, mochte Walter Krämer erst vor wenigen Wochen einen Platz widmen, obwohl es bereits unmittelbar nach Kriegsende und Jahr für Jahr immer wieder Bestrebungen in Siegen gab an ihn zu erinnern. Aber: Krämer war Kommunist.

Wer den irritierenden und sinnlosen Klammern aus dem Weg gehen und sich trotzdem ein wichtiges Werk deutscher Literatur aneignen will, kann mit der Taschenbuchausgabe der alten Fassung sehr glücklich werden.