Staunend berührten ihre Füße den heiligen Boden des Roten Platzes: Das also war das Mekka der Weltveränderung! Aber warum waren die Leute nicht alle fröhlich? Und wieso sollte jetzt alles ganz anders werden? War es vorher in der Sowjetunion nicht gut und richtig gewesen? Sie nannte sich Yildiz, ein falscher Name für eine richtige Frau. Zu Hause, in der Türkei wartete Gefängnis auf sie. Mit Kommunisten wurde dort kurzer Prozess gemacht. Bei unseren Gängen durch das Moskau der Perestroika hielt sie häufig ein Buch eines gewissen Pamuk in der Hand.
Darvinoglu nennt sich der Großvater als sich die Türken, auf Geheiß des großen, diktatorischen Modernisierers Atatürk Familiennamen wählen müssen: Sohn des Darwin. Wie rasend macht sich der Arzt Darvinoglu auf, ganz alleine die europäische Aufklärung zu wiederholen, eine Enzyklopädie zu schreiben, um dem "dem gesamten Orient beizubringen, dass es keinen Gott gibt". Orhan Pamuk lässt in seinem Roman "Das stille Haus" den Furor der Europäisierung der Türkei los, den großen Bruch mit dem osmanischen Reich und lässt die Wut mit der Zeit der Enkel wieder auferstehen: Am Vorabend des letzten türkischen Militärputsches im Jahr 1980. Das stille Haus am Marmara-Meer war als Zuflucht gedacht. Denn Dr. Darvinoglu hatte es sich in Istanbul mit Talat Pascha verdorben, jenem Funktionär der Jungtürken, der für den Mord an den Armeniern verantwortlich war und als Regierungschef des untergehenden osmanischen Reichs die Türkei an die Seite der Deutschen in den ersten Weltkrieg führte. Doch für den ersten Darvinoglu und seine Frau sollte das Haus eher eine feuchte Gruft werden.
Immer noch wohnt die steinalte, herrische Frau des längst verstorbenen Arztes in dem alten Haus, als der Autor ihre Enkel aus Istanbul zu Besuch kommen lässt und mit ihnen die Geschichte seines Landes und die scheinbar privaten Verstrickungen zu einem Roman verknüpft, dessen Erzählknoten nach und nach ein Muster voller Melancholie, verlorener Liebe und Gewalt preisgeben. Tag für Tag finden sich auf den Straßen der Türkei in den 70er und 80er Jahren die Leichen von linken und rechten Militanten, die türkische Republik taumelt unter ihren wirtschaftlichen und sozialen Problemen, und eine aufgehetzte Öffentlichkeit findet in den Kommunisten die Schuldigen: Tausende politische Gefangene werden nach dem Putsch zum Tode verurteilt werden, die Zahl der Inhaftierten und Gefolterten wird bei einer Million liegen, doch noch, im Buch von Pamuk, ist der Terror eher privat als staatlich. An einem seiner Protagonisten, einem entfernten Verwandten der Darvinoglus, exekutiert Pamuk die ganze Verdruckstheit, die Allmachtsfantasien faschistischer Hilfstruppen: Er wird aus Neid und unerwiderter Liebe eine junge Frau erschlagen, die er und seine rechte Gang für eine Kommunistin halten.
Doch vor dem dramatischen Finale des Romans bietet Pamuk seine ganze schreibende Kraft auf, um Einsamkeit und Verzweiflung der Enkel an der Einsamkeit und Boshaftigkeit der Großmutter zu messen: Faruk, der Älteste, säuft und verliert sich in jahrhundertealten Dokumenten, aus denen er nie das Buch wird machen können, das er sich vorgenommen hat. Seine Schwester, die schöne Nilgün, sympathisiert mit sozialistischen Ideen ohne wirkliche Vorstellungen davon zu haben und Metin, der Jüngste, träumt von den USA, von der Flucht aus dem Stillstand der Türkei in die kühnen Städte des Fortschritts, die er nur aus amerikanischen Filmen kennt. Der kalte Krieg sah die Türkei fest an der Seite der USA: Vom Koreakrieg bis zur gnadenlosen Verfolgung der Linken waren die diversen türkischen Regierungen willige Helfer im "Great Game" gegen die Sowjetunion. Es sollte dann auch die Regierung Carter sein, die den Putsch der türkischen Militärs, der treuen NATO-Verbündeten, politisch und finanziell unterstützte und so vorrangig an der Unterdrückung der Kurden beteiligt war.
"Zuerst sah ich nach, wie viele Leute am Vortag wieder umgebracht worden waren. - Insgesamt hatte es zwölf von uns und sechzehn von den anderen getroffen", lässt Pamuk seinen pickligen, verschwiemelten Nachwuchsfaschisten in der Zeitung lesen und den Leser erschauern. Wie eine Katharsis erscheint der Roman heute, eine Arbeit, die schon 1983 auf türkisch erschienen ist. So viele Tote auf dem Weg zu einem besseren Leben. Es ist der Türkei und ihrem großartigen Orhan Pamuk zu wünschen, dass der Weg der Versöhnung mit den türkischen Kurden, den die jetzige Regierung eingeschlagen hat, zum Erfolg führt. Spät scheint sich der Wunsch des ersten Darvinoglu nach Modernisierung zu erfüllen. Dass es ausgerechnet eine islamisch geprägte Partei ist, die diesen Kurs einschlägt und nicht eine laizistische, hätte sich der Großvater sicher nicht vorstellen können.
Wo bist Du jetzt, Yildiz? Sind deine schwarzen Haare immer noch so dicht und seidig, wie in jener Zeit, als wir uns kindlich über die ersten privaten Kneipen in Moskau freuten? Von meinen Haaren mag ich gar nicht reden. Haben sie Dich bei der Rückkehr geschnappt, war es das Risiko wert? Was sagst Du zu Deiner Türkei, heute? Ganz sicher liest Du immer noch Pamuk. Den neuen, jetzt erst auf Deutsch erschienen, der bei Euch schon 1983 verlegt wurde, kann ich Dir empfehlen, aber vielleicht hast Du ihn ja damals in Moskau schon gelesen: Jenes Buch, ohne dass Du nicht Metro fahren wolltest.