Das immer noch arme Lateinamerika ist reich an Literatur, üppig bestückt mit den Wortmächtigen, die aus der Sprachlosigkeit der Armut und der Unterdrückung Epen der Wirklichkeit destillieren, die niemanden, der ein Herz hat, unberührt lassen. Der 1976 geborene argentinische Autor Felix Bruzzone, der mit "76" seine erste große Erzählung in deutscher Übersetzung vorlegt, gehört fraglos dazu.
Mit "76" ist das Jahr 1976 gemeint, das erste Jahr der wechselnden Militärdiktaturen, die, mit Duldung der USA und unter Nichtwahrnehmung der deutschen Öffentlichkeit einen selten grausamen Krieg gegen die eigene Bevölkerung, insbesondere die eigene Jugend begannen, der erst 1983 endete. "Ich schwöre es bei Mamma", sagt der kleine Junge am Strand in der ersten Erzählung zu seinem Kumpel. Und der antwortet: "Schwör nicht auf was, was du nicht hast." Mit dieser rüden Kinderrempelei wird der erste, dumpfe Akkord eines Stückes angeschlagen, der die nächsten Seiten in einer melancholischen, poetischen Schwingung hält bis die Musik des Todes jeden Alltag Argentiniens durchdringen wird.
Es sollen mehr als 30.000 zumeist junge Menschen gewesen sein, die in den Zeiten des Staatsterrors "verschwunden" sind. Immer noch wird nach denen gesucht, von denen man ziemlich sicher weiß, dass sie aus Flugzeugen in den Rio de la Plata geworfen wurden, an ihren Folterungen starben oder irgendwo verscharrt wurden. "Der eine oder andere hatte ihm geraten nach Cordoba zu fahren, um mit eigenen Augen zu sehen, wo sein Vater untergetaucht war", erinnert sich ein Lastwagenfahrer, dessen Vater auch zu den "Verschwundenen" gehört. Die "Desaparecidos" hinterließen Kinder und Eltern, die bis heute wissen wollen wann und wo Väter und Söhne, Mütter und Töchter gestorben sind. Und nicht wenige hängen dem Traum an, ihre Verwandten seien nur untergetaucht, hielten sich im Ausland auf oder eben im argentinischen Cordoba.
Bruzzone, dessen Vater drei Monate vor seiner Geburt verschwand und dessen Mutter nur drei Monate nach seiner Geburt der Junta zum Opfer gefallen war, verarbeitet nicht nur sein Trauma, er arbeitet mit seinen Erzählungen an dem Alb, der auf der argentinische Gesellschaft bis heute lastet: Dem Verlust einer Generation der Mutigen und Tapferen, die sich der Diktatur in den Weg stellten und die von ihr gefressen wurde. Es sind kleine, scheinbar unaufwendige Geschichten, die Bruzzone in kargen Farben malt, und die immer vom Verlust handeln, vom Suchen und vom Nichtfinden, von der Sehnsucht wissen zu wollen.
Die letzte der Erzählungen ist einem mythischen Cordoba gewidmet, einer Stadt, in der auch Androiden leben und in der "die ganze Kanalisation verglast ist". Hier ist der fantastische Realismus lateinamerikanischer Literatur wiederzuerkennen, jene Fantasie, die der Wirklichkeit eine weitere Dimension abringt, um sie besser zu begreifen. Doch im Falle der tatsächlichen Stadt Cordoba kann die Fantasie kaum mehr leisten, als die Realität zu bieten hat: Während des englisch-argentinischen Krieges um die Malvinas (Falklandinseln) hatte die britische Regierung, im Falle einer Niederlage ihren Schiffen mit Nuklearwaffen den Befehl erteilt, die Stadt Cordoba atomar zu vernichten.
Wenn in diesen Tagen der lateinamerikanische Autor Vargas Llosa den Literaturnobelpreis erhält, dann kann einen Wehmut beschleichen: Jener Autor, der mit dem Buch "Der Krieg am Ende der Welt", nach eigener Aussage "Das Urbedürfnis der Armen nach Menschwerdung in einer humanen Gesellschaft" verarbeitete, ist dann später auf "Das Böse Mädchen" gekommen, eine altersgeile Arbeit ohne jede gesellschaftliche Ambition, zu einer Zeit geschrieben, in der Llosa den Irak-Krieg guthieß. Doch mit Bruzzone knüpft die lateinamerikanische Literatur erneut an dem Netz, mit dem sie uns gefangen hält: Der zauberhaften Verknüpfung von Fantasie und Wirklichkeit zugunsten der poetischen Erweiterung des Bewusstseins.
Felix Bruzzone erhält den "Anna-Seghers-Preis"
Er wird am 19. November 2010 in der Berliner Akadamie der Künste,
Pariser Platz 4, in einer öffentlichen Veranstaltung verliehen.