Warum lesen wir Romane, warum erlesen wir uns die Leben anderer? Diesen Leseeifer mit der Armut, der Einfalt des eigenen Lebens zu erklären, würde weder der Bedeutung der Literatur noch der Vielfalt des wirklichen Lebens entsprechen. Und doch liegt ein wenig Wahrheit darin: Nie und nimmer könnten wir alle die Leben leben, die uns die Literatur schenkt, nie könnten wir die vielen Welten und Zeiten erleben, deren wir über die Autoren teilhaftig werden. Es ist dieser Reichtum, der mit wenig Geld und viel Willen zum Verstehen erworben werden kann, es sind diese Reisen, die, zwischen zwei Buchdeckeln gepackt, von klugen Menschen ersonnen, uns mehr Wirklichkeiten zugänglich machen, als wir je selbst bereisen könnten. Eine solche Reise, in die USA der fünfziger Jahre, legt uns Louis Begley mit dem Roman "Ehrensachen" vor. Begley, der mit seinem Erstlingswerk "Lügen in der Zeit des Krieges", eine einfühlsame Geschichte zur jüdischen Illegalität in den Zeiten der Verfolgung vorgelegt hat, widmet sich in seiner neuesten Arbeit der Geschichte eines jungen Juden in der amerikanischen Oberschicht, der sein jüdisches Erbe nicht ablehnen kann und nicht annehmen will.

Die Bühne des Stücks über jüdisches Sein und Nichtsein gibt die Eliteuniversität Harvard, und der Erzähler der Geschichte, Sam, kommt aus einer dieser protestantischen Oberschichtenfamilien der USA, für die Harvard gemacht ist. Sam entwickelt im Buch die zentrale Figur des Henry, der in Polen geboren, die Nazis überlebt und in den USA dazu gehören will. So wie Henry versucht seine jüdische Herkunft zu verdrängen, rätselt Sam über die seine: Ein Adoptivkind ist er, weis nicht von wem gezeugt, ausgestattet mit einem neuenglischen Hintergrund und einem großzügigen Monatsscheck. Der Zweifel an seiner Herkunft lässt ihn die leidenschaftlichen Schwankungen Henrys verstehen, der, seiner Verfolgungsgeschichte wegen, seine jüdischen Wurzeln nicht leugnen will und doch, fast verzweifelt versucht einen glatten Zugang zur angeblich besseren amerikanischen Gesellschaft zu finden, die sich natürlich nicht für antisemitisch hält, allerdings selbstverständlich einen Juden als Mitglied ihres Golfclubs nicht dulden würde.

Wie häufig bei Büchern mit einer Wie-Auch-Immer-Jüdischen-Thematik frappiert das gemeinsame Erbe der Juden und der Deutschen: Das große Verbrechen der deutschen Nation an den europäischen Juden lässt uns, Generation um Generation nicht los, zwingt die Deutschen und die Juden zu einer sonderbaren, historisch begründeten Gemeinsamkeit. Diese trennt sie zugleich schärfer als Völker durch Kriege getrennt werden, die lange zurück liegen. Vielleicht ist das der Beweggrund, den Roman mit seinen fast fünfhundert Seiten bis zum Ende zu lesen, denn dieser Henry, der hunderte von Seiten seiner großen Liebe hinterher jagt, um später zu erkennen, dass sie zu alt für ihn geworden ist, dieser brillante Junge, der seine Geisteskräfte an das Handwerk jener Juristen verschwendet, deren Arbeit darin besteht die Reichen reicher zu machen, dieser jüdische Henry, dem ein anfänglich geheimnisvolles, in der Auflösung aber völlig banales Verschwinden zuerzählt wird, der könnte einen Leser auch gut langweilen.

Wenn man bedenkt, dass die Romanzeit vom Koreakrieg bis in die achtziger Jahre reicht, dass ein Attentat auf einen amerikanischen Präsidenten verübt wurde, dass es Kriege in Vietnam gab und im Nahen Osten, die fast immer mit dem jüdischen Staat Israel als Beteiligtem, dann ist die einzige politische Zuckung, die der Roman erwähnt, die Verstaatlichung einer Reihe von französischen Betrieben durch François Mitterand, doch ein wenig knapp. Und auch von der erfahren wir nur, weil Henry, inzwischen bei einer dieser amerikanischen Rechtsanwaltssozietäten gelandet, die mehr Vermögen betreuen als die Skandinavier an Staatshaushalt vorweisen können, seinen wichtigsten Klienten vor den Folgen der Verstaatlichung schützt. Selbst das wird nicht als gesellschaftliches Drama erzählt sondern als privater Nebbich. Kann es sein, dass die Harvard-Studenten vom Koreakrieg, so oder so, nicht berührt waren? Ist es denkbar, dass amerikanische Rechtsanwälte am Vietnamkrieg nicht interessiert waren?

Immerhin kommt dem Erzähler, jenem mitstudierenden Sam, der sich im Roman auf eine schriftstellerische Laufbahn zubewegt, die Ahnung, dass sein Land anlässlich des Vietnamkrieges in den Wahnsinn taumelt als es in Vietnam militärisch mal verliert, mal gewinnt, um später die Achtung der Völker zu verlieren. Ohnehin ist in Sam, von Depressionen geplagt und nicht nur an seiner Karriere sondern ernstlich auch an seinen Freunden interessiert, eine weit interessantere Figur angelegt als in diesem Henry, der eigentlich nur mit seinen Rückerinnerungen an die Illegalität in Polen an Farbe gewinnt. Aber Sam bleibt ein notwendiges Konstrukt des Autors. Begley hat ihn als Erzähler des eher langweilenden Henry erkoren und erlaubt ihm kein eigenes Leben.

Ein möglicherweise ungerechter Verdacht beschleicht den Leser: Der Verdacht auf Marketing. Kann es sein, dass nur die Jüdischkeit dem faden Henry eine gewisse Würze verleiht? Würde ein protestantischer, ein katholischer Henry die gleiche Aufmerksamkeit erlangen wie der jüdische? Doch vielleicht ist dem Autor einfach der poetische Atem zu kurz geworden. Der Verdacht konnte einen schon bei seinem vorigen Roman "Schiffbruch" beschleichen, der ähnlich wie die vorliegende Arbeit gekonnt und routiniert erzählt ist, aber wenig bewegt. Und doch bleibt ein weiteres fremdes Leben, weit ab vom deutschen Durchschnitt und wohl auch dem amerikanischen, dem nachzuspüren lohnt.

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