Eine jede wissenschaftliche Betrachtungsweise hat zur Voraussetzung die Einführung einer gewissen Ordnung in die Fülle des zu behandelnden Stoffes. Denn nur durch eine ordnende und vergleichende Tätigkeit kann man die Übersicht über das vorliegende und sich unablässig häufende Material gewinnen, welche notwendig ist, um die auftretenden Probleme zu formulieren und weiter zu verfolgen.
Max Planck, Die Physik im Kampf um die Weltanschauung /1/
Und so stellte er als neuen Einfall eine weißgekalkte Tafel aus, auf der er die Namen schreiben ließ. Alles ging indessen seinen alten Gang weiter, und auch die, welche nicht auf den weißen Tafeln standen, konnten sich nicht sicher fühlen. Denn die Namen vieler, teils Lebender, teils auch schon Toter, wurden den Listen beigefügt, damit die Mörder Straflosigkeit erhielten.
Cassius Dio über Sullas Proskriptionslisten /2/
Jene Dichter, die ihre Werke ähnlich perfekt konzipieren, wie die Großmeister im Schach ihre besten Partien, nämlich als ein einziges riesiges Kalkül, bekommen den Literaturnobelpreis fast nie. Dieser Preis wird (wie alle hohen Dotationen) seit langem aus politischen Rücksichten vergeben. Günter Grass erhielt ihn beispielsweise für vierzig Jahre deutsches Wohlverhalten, Herta Müller für Heimatlosigkeit.
Andere hatten weniger Glück, denn sie passten nicht zu ihrer Zeit. Bertolt Brecht war noch zu jung und viel zu links, Ernst Jünger dagegen schon zu alt und zu weit rechts. Jorge Luis Borges schrieb überaus subtil und konservativ, aber Norman Mailer in echter Yankeemanier reichlich roh. Milorad Pavic trägt schwer an der Kollektivschuld, ein Serbe zu sein, und Umberto Eco hatte dieses Jahr das falsche Geschlecht.
Jetzt ahnt ihr auch, liebe LeserInnen, warum sich Barak Obama mit der Plakette schmücken darf. Das ist nicht schwedische Servilität und es sind keine norwegischen Vorschusslorbeeren. Nein, er profitiert von irgendeiner Quote.
Umberto Eco wartet nun schon ewig auf die ominöse Dekoration und muss weiter Betablocker einwerfen und Stenokardien überstehen und darauf hoffen, dass nächstes Jahr Berlusconi zurücktritt und sich das Nobelkomitee seiner wieder erinnert. Man sieht mit Sorge, wie ihn die Museen bereits ihrem Fundus beiordnen. Im Vorwort zu seinem neuesten Buch berichtet Eco: Als der Louvre mit dem Angebot an mich herantrat, im November 2009 den ganzen Monat hindurch eine Reihe von Vorträgen, Ausstellungen, Lesungen, Konzerten, Vorführungen usw. über ein Thema meiner Wahl zu veranstalten, habe ich keinen Augenblick gezögert und sofort die "Liste" oder das "Verzeichnis" vorgeschlagen (man könnte auch von "Katalog" oder "Aufzählung" sprechen, wie man sehen wird).
Die Macht über den Louvre hat immer der amtierende französische Präsident. Er kann absolutistisch entscheiden, sei es, dass er ein pyramidales Gewächshaus im Vorhof errichten lässt, oder dem Geheimdienst befiehlt, Wanzen hinter die Bilderrahmen zu kleben, um die mitternächtlichen Monologe der Mona Lisa abzuhorchen.
Die Vorgeschichte der Akquisition Ecos könnte sich folgendermaßen abgespielt haben.
Als eines Morgens Carla im zartrosa Negligé zu Nicolas ins Bureau trat, fand sie ihn kopfschüttelnd über amerikanische Leporellolisten potentieller Terroristen gebeugt, die ihm rätselhaft waren. Sie strich dem Gatten über das lockige Haar und sprach: Darling, wir haben da einen Professor für Semiotik in Italien, ich glaube, er heißt Umberto Eco und kann dir die Zeichen deuten. Alles klaro, Carla, sagte Nicolas, griff zum Telefon und verlangte den Louvre. Lasst diesen Signore Eco ein paar ordentliche Vorträge über Datenbanken halten. Aber nichts, was den Heiligen Stuhl oder unsere transatlantischen Verbündeten vergrämt!
Cleverer Piemonteser, der er nun einmal ist, hat Umberto zuerst ein Buch daraus gemacht, das er "Vertigine della lista" nannte: Die schwindelerregende Liste. Wie daraus der lahme deutsche Titel "Die unendliche Liste" wurde, weiß nur allein der Hanser-Verlag.
Eco fasst den Sammelbegriff der Liste sehr weit, ohne ihn schlüssig zu definieren. Lasst uns deshalb versuchen, liebe LeserInnen, das Gemeinte aufzulisten, wenn auch ohne den mindesten Anspruch auf Vollständigkeit.
Der Autor denkt bei Listen an
Aktenfaszikel, Almanache, Analekten, Annalen, Anordnungen, Archive, Arsenale, Atlanten, Aufstellungen, Bibliografien, Büchereien, Chroniken, Collagen, Datenbanken, Depots, Dossiers, Einreihungen, Einteilungen, Enzyklopädien, Fahnenweihen, Familienfotos, Florilegien, Friedhöfe, Galerien, Gesetzessammlungen, Gliederungen, Gruppierungen, Herbarien, Hierarchien, Imponderabilien, Inauguraladressen, Indizes, Journale, Karteien, Kataloge, Kompendien, Konkordanzen, Kuriositätenkabinette, Laborbefunde, Lexika, Magazine, Märkte, Massendemonstrationen, Menagerien, Museen, Notizen, Nummerierungen, Ordnungen, Parteitage, Primzahlenfolgen, Quodlibets, Ranglisten, Registraturen, Resümees, Sammelsurien, Speisekammern, Spendenlisten, Stammrollen, Stasiakten, Tabellen, Taufregister, Übersichtstafeln, Vereidigungen, Verzeichnisse, Wörterbücher, Xenophobieepikrisen, Yellowpressartikel, Zentralkomitees,
der Autor denkt, mit einem Wort, an - Zusammenstellungen.
Diese Aufzählung ist beileibe nicht unendlich, doch sie kann beliebig fortgesetzt werden. Und da liegt der Hund begraben. Listen sind niemals unendlich, denn sie sind Menschenwerk, aber die Anzahl denkbarer Listen ist endlos. Das Transfinite findet in unseren Köpfen statt.
Nichts ist für den Laien langweiliger als eine technische Tabelle oder eine siebenstellige Logarithmentafel. Ganz anders steht es um glanzvolle Aufzählungen in der schönen Literatur Westeuropas oder um französische Speisekarten. Daraus lassen sich prächtige Bücher machen. Und wenn man die Kunst des Okzidents mit der Muttermilch eingesogen und ein paar emsige Museumsangestellte an seiner Seite hat, kann man die europäische Malerei für einzigartige Illustrationen ausschlachten.
Eco hat ein monumentales Sammelwerk abendländisch-literarischer Listen voller Realien, Namen, Begriffe, Konstrukte und Metaphern komponiert und kommentiert, gleichsam eine historisch basierte Assortierung des romanisch-westgermanischen Kulturkreises, der sich selbst für den Nabel der Welt hält. Darum findet sich kein Russe, ja überhaupt kein Slawe außer Mde. Szymborska (Johannes Paul II. lässt grüßen) und kein Skandinavier unter den Zitierten. Sogar über das eruptive Island mit seinen kunstvollen Kenningar ist eisiges Schweigen gebreitet.
Und in diesem Buch herrscht Minarettverbot. Weder die Beinamen Allahs noch die Erzählungen aus den 1001 Nächten sind erwähnt. Damit nicht genug, auch Byzanz fehlt ganz. Sogar die weltgrößte Ethnie bleibt außen vor, nicht mal eine Chinoiserie wurde abgebildet. Ebenso sucht man die Mutter aller Listen vergeblich. Gemeint sind nicht die apokryphen Genealogien des Alten Testaments, die es streckenweise ungenießbar machen, sondern die uralten sumerischen Königslisten: Acht Könige regierten 241.200 Jahre. Dann strömte die Flut über die Erde. /3/ Keine Sorge, Umberto Eco hat für fast alles eine Erklärung: Wenn ich allein die Listen, auf die ich bei meiner Erkundung gestoßen bin, vollständig in diese Anthologie hätte aufnehmen wollen, hätte dieses Buch mindestens 1000 Seiten umfassen müssen… Nur die geografischen Auswahlkriterien bleibt er uns schuldig.
Das verbleibende Material ist reichlich und fesselnd genug, denn es entstammt intimer Kenntnis vor allem der romanischen Literaturen. Auch die köstlichste Liste des christlichen Abendlandes wurde nicht vergessen. Der Spitalarzt Rabelais hat sie unter Mithilfe seiner pfiffigen Lustseuchlinge erstellt. Es handelt sich um die Aufzählung der Arschwische, die das Riesenkind Gargantua ausprobiert hat.
Bezeichnenderweise zerflattern die Listen, wenn sie in die Gegenwart hineinragen, ins Chaotische. Auch die Illustrationen wandeln sich. Auf die präzisen Gemälde der Renaissance und des Barock folgen buntscheckige Siebdrucke und Collagen von Warenkonsum und Müll. Wir waten durch Finnegans Wake, oder durch Wortmarmelade (Claire Goll).
Als Geschenk ist es ein ziemlich großes Buch (das Format ist Groß-Oktav), ein sehr lehrreiches Buch voller symbolhafter Bilder und kluger Texte, durchaus geeignet zur Bescherung eines lesewilligen Teenagers, der sich deprimiert unter den Christbaum legt und schmökert, weil pünktlich zum Fest die Festplatte im Eimer ist und das TV-Programm so grottig, wie jedes Jahr zu Heiligabend.
Für uns erwachsene LeserInnen steht die Sache etwas anders. Wir schwelgen in Erinnerungen an voreinst Gelesenes und längst Geschautes. Weihnachten ist das Fest der Völlerei und dies ist ein Lesebuch für Feinschmecker, ein Bildband für Freunde mediterraner Kost.
Anmerkungen
/1/ Die Physik im Kampf um die Weltanschauung. Vortrag, gehalten am 6. März 1935 im Harnack-Haus Berlin-Dahlem von Max Planck, Johann Ambrosius Barth Verlag, Leipzig 1948, 5. Aufl., S. 4 f.
/2/ Cassius Dio, Römische Geschichte, Artemis und Winkler 2007, Bd.1, S. 496
/3/ Beyerlein, Religionsgeschichtliches Textbuch zum Alten Testament, Evangelische Verlagsanstalt, Berlin 1978, S. 114
Titel: Die unendliche Liste
Autor: Umberto Eco
Verlag: Hanser