Lange bevor ich die DDR in einer weitgehend von mir selbst imaginierten Wirklichkeit kennen lernen sollte, wurde sie mir durch Hermann Kant nahe gebracht. In seinem Buch »Die Aula« entdeckte ich den Staat, der wie für mich gemacht schien: Die Entwicklung einer neuen, aus dem Unten kommenden Intelligenz, die großlippige, kumpelige Aufbauatmosphäre, die freundliche Respektlosigkeit gegenüber der Obrigkeit, das alles hätte ich auch gern gehabt, bei mir drüben, wo Oben und Unten weiter säuberlich getrennt blieb und Respektlosigkeit hart erarbeitet werden musste. Mit dem langen, schlauen Abstand von damals, nach dem Verschwinden von Täuschung und Selbsttäuschung, weiß man, dass die DDR auch so war wie Kant sie beschrieb, aber nicht primär. Dies dem Schriftsteller vorzuwerfen, der in sein Buch seine Hoffnungen hineinschrieb, wäre ähnlich dämlich, wie den Präsidenten des Schriftstellerverbandes Kant mit Honecker oder Ulbricht zu verwechseln, was eine entfesselte Öffentlichkeit nach dem Ende der DDR gern tat. Darüber und über ein spannendes und schöpferisches Leben spricht Kant mit Irmtraud Gutschke in einem rekordverdächtig langen Interview mit dem Titel »Die Sache und die Sachen«.

Über oder mit Kant reden, ohne den »Aufenthalt« zu erwähnen, das geht nicht. Denn dieses Buch, in dem ein junger deutscher Kriegsgefangener im polnischen Gefängnis die eigene Schuld entdeckt, beschreibt nicht nur den wahren Ausgangspunkt der DDR, es markiert auch den eigentlichen Fort-Schritt, den so wenig Deutsche haben tun wollen: Nicht den Faschismus vergessen, verdrängen, sondern ihn als das Kreuz annehmen, an das wir uns selber genagelt hatten. Die Westdeutschen haben das spät mit der relativ offenen Debatte um den Judenmord versucht, dass die Kriegsniederlage auch zugleich Befreiung war ist erst zwischenzeitlich Sprachreglung geworden und nicht verinnerlicht. Die Ostdeutschen hatten die Befreiung schon früh angenommen, viel weiter gekommen sind sie damit auch nicht. Diesem Buch »Der Aufenthalt« und der in ihm verarbeiteten Lebensgeschichte Kants gilt eine sonderbare Hartnäckigkeit der Irmtraud Gutschke: Immer wieder empört sie sich, dass die Polen den jungen, zwangseingezogen Soldaten mit Verbrechern in eine Zelle gesteckt haben, ihn nicht nach Nachkriegsende »heim zur Mama« ließen. Wäre es ein Interview-Trick, dem Kant noch einmal, so lange danach, ein festes, fast trotziges Bekenntnis zur deutschen Schuld abzuringen, er wäre gelungen. Aber es ist, glaube ich, so etwas wie eine nachholende, mütterliche Regung, die der nun Achtzigjährige Kant immer noch nicht braucht: »Das krieg ich schon hin«, so lautet die fortdauernde, von ihm selbst kokett festgestellte Überheblichkeit.

Es geht im Buch natürlich um »die Sache«, die gemeinsame, die so schwer zu machen war und so heftig auf den Bauch gefallen ist, um den Sozialismus. »Ich bin,« sagt der Dichter, »dadurch, dass ich politisch argumentiere, zum Literaten geworden und nicht umgekehrt.« Da liegt natürlich der Staatsdichter-Vorwurf lauernd hinter der nächsten Ecke und Kant nimmt ihn fröhlich an, denn es war sein Staat, er hat nicht die Absicht sich zu drücken. Und außerdem: »Die Tatsache, des Misserfolgs der Sache ändert nichts daran, dass ich einen Haufen interessanter Sachen erlebt habe.« Siehste Irmtraud, so geht man mit Niederlagen um, scheint er sagen zu wollen und das mutet ein wenig leichtfertig an. So als hätten die Beteiligten die Sache hauptsächlich vorangetrieben, damit Hermann Kant interessante Sachen erleben könnte, als wäre das Verschwinden des Sozialismus nicht ein Ereignis des Weltdramas. Von solch eleganter Leichtfüßigkeit ist Kant immer dann, wenn Irmtraud Gutschke nachbohrt: Wie war das denn mit den Ausschlüssen aus dem Schriftstellerverband, zum Beispiel, wo lag denn die Kantsche Verantwortung gegenüber den Kollegen, am Boden etwa? Da wird dann eine fixe Theorie geliefert, nach der die SED andernfalls den ganzen Verband geschlossen hätte und in der Güterabwägung . . . , das verstehst Du doch, Leser? Nein, eigentlich nicht.

Wenn der Leser durch das Buch etwas verstehen lernt, dann ist es die ungemeine Bedeutung die Partei und Staat den DDR-Schriftstellern beimaßen. Sie wurden überwacht, ihre Worte wurden zitiert oder zensiert, während der Biermann-Ausbürgerung besonders, aber auch zu anderen Zeiten wurde heftig mit ihnen geredet, sie nahmen in der DDR eine Rolle ein, die in der Bundesrepublik undenkbar gewesen wäre. Wen interessierte es in der West-Politik schon, was die Bölls und die Grass zu sagen hatten, bestenfalls dienten sie als populäre Watschenmänner, wenn der Springer-Verlag einen Terrorismusvorwurf unterbringen wollte. Und auch die gewöhnlichen DDR-Bürger nahmen Schriftsteller ganz anders wahr, als das in der Bundesrepublik denkbar gewesen wäre: » Man war zuständig für sie«, sagt Kant. Das Verschwinden dieser Verbundenheit zwischen Lesern und Dichtern wird in der vorliegenden Arbeit erneut schmerzlich deutlich. Nur einmal noch wurde den DDR-Schriftstellern eine ähnlich Aufmerksamkeit zuteil, als sie für »das System« in Haft genommen wurden. Aber wenn Kant annimmt, »Im Grunde haben die alle nichts abgekriegt, außer mir«, dann liest man eher Egozentrik als Tatsache. Christa Wolf, in den West-Feuilletons lange verehrt und als heimliche Dissidentin gehandelt, wurde nach der Wende plötzlich als schlechte Schriftstellerin zurückgestuft, als Stasi-Tante abgetan. Sie hatte halt, wie Kant, im falschen Staat gelebt.

Wer einem der Großen der deutschen Literatur so nahe kommen möchte wie er es zulässt, der wird mit »Die Sache und die Sachen« einen guten Griff tun. Er wird über Intrigen bei Hofe etwas erfahren, über das Innere der DDR, über Kants Kritik an der PDS und von seinen Vorschlägen für die Linke. Und er wird einem lebendigen, klugen Schriftsteller begegnen, der, ein wenig geleitet von einer wissenden Literatur-Journalistin, dem Affen immer noch Zucker geben kann. Kant hat ein neues, großer Projekt begonnen.