Seit mehr als einem Jahr kommen sie in Massen nach Europa: Die Opfer von Hunger und Krieg, die nicht selten in ihren Asyl-Ländern zu Opfern völkischer Empörungspolitik werden. Kein Thema bewegte und bewegt bis heute die europäische Öffentlichkeit mehr. Und es wird auf lange Zeit kein Thema geben, das so sehr an den gewohnten, europäischen Denk-Schemata rütteln wird. Darüber hat Conrad Schüler ein kluges, analytisches Buch geschrieben.

Wann immer die Kanzlerin oder ähnliche Verbieger und Verbiegerinnen der Wirklichkeit von der „Bekämpfung der Fluchtursachen“ reden, kann man bei ihnen weder von den NATO-Kriegen noch von den ungleichen Handelsbeziehungen zwischen den Ländern der Flüchtlinge und ihren Ziel-Ländern hören. Erst Recht nicht vom deutschen Waffen-Export, den Conrad Schuhler in seinem jüngsten Buch „Die große Flucht“ als eine der Ursachen für die neue Völkerwanderung aus den Armuts- und Kriegsgebieten in die reichen Länder dieser Erde benennt: „Fast 60 % der deutschen Waffenexporte gehe in die sogenannten Drittstaaten außerhalb der NATO“ schreibt der Autor und weiß deshalb: „Die deutschen Waffenexporteure gehen also, neben dem Profit, nach globalstrategischen Imperativen vor.“ Weil allein das Verbot von Rüstungsexporten in Krisengebiete 3,3 Milliarden Euro pro Jahr kosten würde, rechnet Schuhler vor, kann die Wir-schaffen-das-Fraktion keinesfalls über die wirklichen Ursachen reden wollen: Das wäre zu teuer für ihre Auftraggeber.

Doch vor die Analyse hat der Autor die Bestandsaufnahme gesetzt. In klarer, unaufgeregter Sprache referiert Schuhler Zahl und Herkunft der Flüchtlinge, belegt den Zusammenhang zwischen der EU-Flüchtlingspolitik und der nur scheinbar neuen Rechten bis hin zum FDP-Gebrauchsphilosophen Sloterdijk, den er mit dieser einfachen aber populären Hetzparole zitiert: „Die deutsche Regierung hat sich in einem Akt des Souveränitätsverzichts der Überrollung preisgegeben.“ Um dann keine Illusionen aufkommen zu lassen: Die Flüchtlinge werden eher mehr, selbst wenn man ihre Fluchtbewegung temporär stoppen kann, denn Armut, Kriege und Umweltkatastrophen nehmen auf die zarten Gefühle der Sloterdijks keine Rücksicht, sie werden nicht abrupt geringer werden und treiben mit der von ihnen ausgehenden Gewalt inzwischen weltweit 60 Millionen Flüchtlinge vor sich her. Auch wenn Schuhler den Terrorismus als eine der Fluchtursachen notiert, begreift er ihn doch als „eine Kraft, die sich gegen die einheimischen Eliten und gegen den Westen richtet“. Jenseits von den üblich-üblen moralischen Wertungen des Terrorismus, sieht der Autor nüchtern und klar: „Der Islamismus bietet – nachdem die linken Alternativen nicht zuletzt auch mit Unterstützung des Westens niedergeschlagen wurden – scheinbar eine Alternative zu den korrupten und ineffektiven Regimes in den islamischen Ländern.“

Doch ob der Terrorismus, der Krieg oder die schlichte Angst vor dem Verhungern die Menschen dazu treibt ihre Heimat zu verlassen: Es ist immer der globalisierte Kapitalismus und seine zwanghafte Lust auf Profit, der den Hauptgrund für Flucht und Vertreibung liefert: Das gewaltige Gefälle zwischen Arm und Reich, dem Schuhler den Riss in der Welt zuschreibt, aus dem Armut und Krieg wie Eiter aus der Wunde selbst in einst friedlichen Ecken der Welt sickert. Am Beispiel des auch in deutschen Medien hochgelobten Freihandels macht der Autor fest, dass er nur der Freiheit zur Ausbeutung dient: „Zu den unverhüllten Methoden der ökonomischen Unterwerfung und Verelendung des Südens gehört die vertraglich zugesicherte Nutzung von Fischfanggebieten.“ So zerstören die Groß-Trawler der Europäer die einheimische, kleinteilige Fischereiwirtschaft und die Fischer haben dann nur die Wahl zwischen Verhungern, Piraterie oder eben Flucht. Auch, dass der alte, umständliche Kolonialismus heute unter dem modernen Wort „Landgrabbing“ weiterlebt – der Vertreibung einheimischer Kleinbauern zugunsten internationaler Multis – gehört zum festen Repertoire der Fluchtursachen, über die „man“ nicht spricht, jedenfalls nicht in der Umgebung der Kanzlerin und der ihr angeschlossenen Medien.

Sorgsam rechnet Schuhler in seinem Buch vor, was die soziale Bewältigung des Flüchtlingsproblems kosten wird und erinnert daran, dass es in Deutschland parallel zur Not der Flüchtlinge noch ein paar andere Notstände gibt. Wenn er zum Beispiel über den Wohnungsmarkt handelt, „der heute schon die Nachfrage nicht bedienen kann“. So addiert er allein für den sozialen Wohnungsbau 20 Milliarden dringend notwendige Euros und sorgt sich darum, wer denn das bezahlen soll, um zu diesem Fazit zu kommen: „In Wahrheit stehen wir vor der Frage, die Einkommens- und Vermögensverhältnisse bei uns grundsätzlich neu zu regeln, wenn wir der mit der Völkerwanderung aufgebrochenen neuen Dramatik gerecht werden wollen.“ Natürlich geht es um die weltweiten Vermögensverhältnisse, die neu geregelt werden müssen, wenn die Völkerwanderung ein Ende haben soll. Und der Marxist Conrad Schuhler weiß auch, dass der Antagonismus nur überwunden werden kann, wenn sich Kräfte finden, die den Verhältnissen eine gründliche Änderung verordnen können: „Alles wird davon abhängen, ob es zu einer globalen Solidarität kommt, ob die Not zu der Entschlossenheit drängt, die Lage nicht kampflos hinzunehmen.“

Conrad Schuler wird sein Buch
DIE GROSSE FLUCHT
am 12. 07. 2016, um 20.30 Uhr
im Buchhändlerkeller
Carmerstraße 1
10523 Berlin vorstellen
Es moderiert Uli Gellermann