Es ist die kulturell prägende Schicht des Landes mit der Uwe Timm seinen Roman "Vogelweide" bevölkert: Man kennt die angesagten Galerien, die wirklich guten Weinhandlungen, spricht mindestens zwei Sprachen und hat ein reines ökologisches Gewissen. Die Alltagsreize sind wohltemperiert, die Gesellschaft ist scheinbar in guten Händen, wozu sollte man sich aufregen? Das haben doch die Eltern damals gemacht. Die pflegen die Erinnerungen, die Generation Golf pflegt alte Mahagoni-Boote oder einen Saab aus dem Jahr 1966, behutsam, mit der Lust am Bewahren. Das Zweitschlimmste, was diesen Leuten geschehen kann ist die Insolvenz. Das Schlimmste aber ist das Begehren, auch noch des Nächsten Weib, das kann nicht gut gehen.

Wenn schon eine Weltenflucht, dann auf eine Insel in der Elbmündung. Und wenn schon Flucht vor dem Bankrott, dann nicht in das Hartz-Vier-Gefängnis für die Vielen, sondern in den Dienst als Vogelwart. Dahin hat es Eschenbach dekorativ verschlagen, dort, in der Inseleinsamkeit fällt die Stadt von ihm ab, die Abendröte seiner Geschichte senkt sich auf ihn, und er lauscht dem Knacken und Knistern der Kloben im Ofen. Doch plötzlich ist die Welt wieder da: Anna wird ihn besuchen. Anna, mit der ihn eine verrückte Liebe verband, für die er seine Geliebte verließ und Anna ihren Mann.

Das besinnungslose Begehren, das Sichverzehren nach dem anderen Leib, der unbedingte Liebeswahnsinn, woher mag das alles kommen? Vielleicht aus den Tiefen der Gene, der Gier nach dem Besitz am anderen Menschen, dem unaufhaltsamen Wunsch sich zu versenken, zu verschenken. Da sitzen sie nun, Anna und Eschenbach auf der Insel, und wissen vom Begehren nur eines sicher: Es verschwindet wenn es an sein Ziel kommt, wenn die Normalität sich einschleicht, wenn man nicht mehr eins ist sondern wieder zwei.

Auf tritt, eindeutig erkennbar, Frau Allensbach, die Norne, wie Timm sie durch den Mund von Eschenbach nennt. Sie sucht nach dem Moment, der die Liebe auf den ersten Blick ausmacht, das Wissen darum, wie einer des anderen Schicksal wird. Ob Eschenbach oder Timm, die Allensbach-Umfrage-Tante als Norne auszugeben, ist ein Irrtum. Sie war keine Figur, die Schicksale bestimmte, wie es angeblich die mystischen Frauen in der "Edda", der nordischen Sage, unterfingen. Sie war eine, die den Vielen ihre Schicksale ablauschte, sie bündelte und daraus Meinungen herstellte. Nicht selten nach ihrer politischen Neigung gefälscht. Denn wer die Fragen formuliert, bestimmt die Antworten. Jetzt soll Eschenbach, der Mann vom IT-Fach, bei der elektronischen Suche nach der Quelle des Begehrens behilflich sein.

Ja, es gibt eine Welt außerhalb der romanesken Inseleinsamkeit. Da ist der englische Freund, der auf die Neoliberalen flucht. Da ist die hässliche Figur des Marktliberalen, der den Bankrott Eschenbachs verursachte, ein böser Mensch, so wie die Gier der Banker als böse verkauft wird, als sei sie nicht die logische Folge des Systems. Und da ist die kurzzeitige Entdeckung Eschenbachs, nach dem Sturz aus dem Wohlstandsleben, dass es normale Menschen gibt. Das ist alles in die sorgsam polierte Sprache Uwe Timms gekleidet, das ist alles wohl gefügt und zu einem Mosaik von edler Schönheit zusammengeführt. Aber ein Begehren nach Veränderung findet nicht statt. So wie im wirklichen Leben das Landes. Doch der Gattung Roman ist die Fiktion zu eigen. Er kann vorahnen, vorentwerfen, nachdenken lassen. Anders als in anderen Büchern Timms hat in "Vogelweide" die Fantasie ihre Grenzen.

Buchpremiere und Lesung am 27.8. in der Berliner Akademie der Künste am Pariser Platz