Heiko Flottau hat lange für die „Süddeutsche“ und die „Basler Zeitung“ aus Nahost berichtet; sachkundige Bücher schreibt er auch. Zuletzt erschien 2004 bei Droemer im Kontext des war on terror eine umfassende politische Beschreibung der Krisenregion samt historischer Herleitung ihrer Konflikte. Das Feuilleton äußerte sich wohlwollend. Im vergangenen Jahr legte Flottau, inzwischen aus Kairo zurück, dann mit „Die Eiserne Mauer“ einen Band zum Nukleus des Nahostkonflikts vor. Seine Kernbotschaften: Trotz ernsthafter arabischer Friedensangebote sind Lösungsansätze nicht in Sicht; einen lebensfähigen palästinensischen Staat wird es nicht mehr geben. Das Feuilleton reagierte – nicht.
Gegenstand des neuen Buchs ist die scheinbar ausweglose Verstrickung der muslimischen und jüdischen Bevölkerungsgruppen im einst gelobten, heute territorial wie psychologisch zutiefst zerrissenen Land Palästina in Hass und Gewalt. Stein gewordenes Symbol der humanitären und politischen Katastrophe ist die monströse, 700 Kilometer lange Sperrmauer, die Israel ungeachtet aller Proteste – und trotz Völkerrechtswidrigkeits-Urteils des IGH erneut ungeahndet – über weite Strecken auf geraubtem Grund und Boden als Abgrenzung zu palästinensischen Siedlungsräumen und wohl auch geplante finale Grenzlinie im Westjordanland errichtet.
Der Konflikt in und um Palästina bleibt in seinen Weiterungen einer der gefährlichsten politischen Brandherde weltweit. Wo so lange so erbittert gestritten wird, verschwimmen die Konturen, bleibt die Wahrheit auf der Strecke. Zudem ist das Problem facettenreich, den Überblick zu wahren, fällt schwer. Historische deutsche Schuld gegenüber Jüdinnen und Juden bewirkt in Verknüpfung mit dem langen Nachhall des Kalten Kriegs, der hoch professionell agierenden Lobby und ausgefeilten Auslandspropaganda des jüdischen Staats, dass in der Bundesrepublik verbreitet Unkenntnis herrscht, gleichzeitig medial ein meist einseitiges Bild vermittelt wird. Gegen beides geht „Die Eiserne Mauer“ an.
In einer Mischung aus eigenen Texten, Gastautor-Beiträgen und einigen Nachdrucken seziert der Autor Hintergründe und Ursachen des Konflikts sowie die bedrückenden Auswirkungen des bis acht Meter hohen Apartheid-Riegels auf den Alltag hunderttausender Palästinenser, deren Stimmung zwischen Hoffnungslosigkeit, Verbitterung und Wut changiert. Gewiss nicht zufällig hat er das Buch seinen Eltern gewidmet, die ihn nach 1945 gelehrt hätten, „dass Unterdrückung und Krieg nur wieder Unterdrückung und Krieg hervorbringen“.
Und so lässt Flottau ein Kaleidoskop von Betroffenen, Apologeten, aber auch zahlreichen israelischen und jüdischen Mahnern zu Wort kommen: Unter ihnen ein einstiger Verteidigungsminister, der den angeblichen Sperrwall gegen Attentäter als Hysterie-Produkt bezeichnet, über einen Abriss nachdenkt. Ein in Deutschland ausgebildeter Arzt, der in die Heimat ging, um zu helfen, jedoch an den brutalen Konsequenzen von Mauer und 560 Checkpoints auf 5.800 Quadratkilometern Westbank (Schleswig-Holstein hat 16.000 qkm) verzweifelte und zurück nach Deutschland floh. Ebenso vertreten: das israelische Außenministerium und die Armee mit Rechtfertigungsversuchen, die euphemistisch „Zaun“ genannte Konstruktion rette Leben. Nicht gemeint sind jene Palästinenser, die bei friedlichen Demonstrationen gegen den strangulierenden Bau vom Militär erschossen wurden. Bedrückende Einblicke liefert die Schilderung des sprichwörtlich aussichtslosen Alltags einer von der Mauer fast komplett umschlossenen palästinensischen Siedlung durch einen bekannten Haaretz-Journalisten. Ein Sprecher der einst von Israel als Gegengewicht zur PLO protegierten Hamas trägt im Interview strategische Ziele seiner Organisation vor, die inzwischen zwar weitgehend auf Selbstmordattentate verzichtet, dem inhumanen Kampfmittel jedoch nicht entsagt. Diesem Hardliner setzt der Autor einen Dozenten aus Ramallah entgegen, der solche Anschläge als moralisch verwerflich und politisch kontraproduktiv verurteilt.
Aufhorchen lassen Äußerungen eines früheren Knesset-Sprechers, der um des Erhalts der Demokratie in Israel und des einzigen Orts für eine eigene jüdische Nation willen bereit wäre, „einen Teil des Landes Israel aufzugeben“. Und obendrein seine Landsleute auffordert, sie mögen aus der Holocaust-Erfahrung sensibler auch für das Leiden anderer werden. Hier blitzt ein selten gewordener Hoffnungsschimmer auf. Realisten und Humanisten sind in Israel derzeit aussichtslos unterlegen. Aber es gibt sie ebenso wie die mutigen Soldaten und Offiziere von Breaking the silence. Vielleicht verhilft ihnen nicht nur die demografische Entwicklung im jüdischen Staat mittelfristig zu mehr Gewicht.
Separate Kapitel spiegeln die aktuelle Situation in der umkämpften Region und die repressive Politik des Besatzerstaats. Heiko Flottau nimmt den Leser aber immer wieder auch mit zurück in die Geschichte. Die historische Einordnung beginnt bei frühen Zionisten wie dem Russen Jabotinsky als geistigem Vater des Konzepts radikaler Abgrenzung („Eiserne Mauer“) der jüdischen Einwanderer von den auf die oft gewaltsame Landnahme erwartet widerständisch reagierenden Arabern. Sie reicht über die Anfangsjahre des Staates Israel, Flucht, Vertreibung und Widerstand der Palästinenser, über all die gescheiterten Friedensbemühungen bis zur Entwicklung des wuchernden Siedlungsnetzes in den 1967 eroberten Gebieten und zum Mauer-Architekten Sharon. Zu besserem Verständnis der verfahrenen Situation trägt ebenso eine Darstellung des innerpalästinensischen Konflikts in seiner engen Verzahnung mit der allen postulierten Prinzipien Hohn sprechenden Politik des Westens nach dem Hamas-Sieg bei unbestritten demokratischen Wahlen 2006 bei. Die hilfreiche Zeittafel ist für Flottau zugleich ein Stück Biografie; war er doch seit 1988 bei den allesamt gescheiterten Verhandlungen zu Normalisierung und Friedenslösung meist als Berichterstatter vor Ort.
Dem knappen Kartenmaterial des Buches hätte man eine Darstellungsform gewünscht, die weitaus plastischer die schier unglaubliche Zerstückelung und Verschneisung der Westbank durch Siedlungen, Checkpoints sowie Straßen nur für Israelis verdeutlicht. Führte doch genau diese Atomisierung des palästinensischen Siedlungsraums zur entscheidenden, bitteren Erkenntnis des Regionalkenners: Mangels aller Bewegungsfreiheit und jeglicher logistischer Voraussetzungen für eine eigenständige wirtschaftliche Entwicklung gibt es für einen lebensfähigen palästinensischen Staat keine Perspektive mehr.
Der gelegentlich vernommenen Gleichsetzung von Holocaust und Schicksal der Palästinenser tritt der Autor energisch entgegen. Flottau lässt auch nie an seiner Kritik politischer Fehler der Palästinenserführungen und strikten Ablehnung von Anschlägen oder Raketenangriffen auf israelische Zivilisten zweifeln. Ein in seiner Lakonie anrührender Text schildert die grausige Arbeit eines Freiwilligen, der nach Attentaten in Israel auf Straßen, Dächern und gar in Bäumen nach Teilen von Bomben zerfetzter Körper suchte, um sie für die Beisetzung zusammenzutragen. Zugleich verdeutlicht der erfahrene Journalist jedoch die krasse Asymmetrie im Verhältnis der Kräfte beider Konfliktparteien wie auch der tatsächlichen Opferzahlen. Beispielhaft dafür der jüngste Gazakrieg; 13 getöteten Israelis lagen etwa 1.400 tote Palästinenser gegenüber, darunter viele Frauen und Kinder. Es sei ergänzt: Wichtige Komponenten der auch dort eingesetzten israelischen Militärmaschinerie kommen aus Deutschland.
Dem Autor war offenkundig bewusst, in welch vermintes Gelände er sich begibt. Hatte nicht Kanzlerin Merkel die Schuld für den genannten Krieg, der Israel – wiederum sanktionslos – den Vorwurf schwerer Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung einbrachte, sofort „eindeutig und ausschließlich“ Hamas zugewiesen? Flottau kommt zu einer anderen Wertung. Er will zumindest nicht ausschließen, dass Israel, die USA des George Bush und die EU gemeinsam signalisieren wollten, nie werde man mit einer islamistischen Organisation verhandeln, sie vielmehr stets vom politischen Prozess ausschließen – und sei sie noch so demokratisch an die Macht gekommen. Wenn er zudem die Überzeugung äußert, entgegen beharrlicher Behauptungen Israels und seiner westlichen Verbündeten planten weder Hamas noch Irans Präsident Ahmadinedschad („trotz seiner wilden Worte“), die Juden auszumerzen, wird ihm das schwerlich ein Bundesverdienstkreuz bringen – zumindest so lange, wie deutsche Nahostpolitik im Kanzler- und nicht im Auswärtigen Amt gemacht wird. Seine Wahrheitssuche an die Schmerzgrenze treibend, zitiert Flottau einen in Oxford lehrenden jüdischen Historiker, Israel entspreche allen Kennzeichen eines „Schurkenstaats“. Der breche gewöhnlich internationales Recht, besitze Massenvernichtungswaffen und praktiziere Terrorismus: „Israel erfüllt alle diese drei Kriterien.“
Sachliche Kritik an diesem Staat führt, wie unlängst wieder am Beispiel eines Historikers vom Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin erlebbar, oft zu massiven Gegenangriffen – wohl auch mit Abschreckungsabsicht. In hauptstädtischen Journalistenkreisen erzählt man vom Besuch eines hochrangigen Diplomaten bei einer Tageszeitung mit der Forderung, der Verlag möge eine missliebig realistische Nahost-Berichterstattung durch Entlassung unterbinden. Da wird auch verständlich, warum der freie Autor eines ostdeutschen Regionalmagazins sich der Forderung eines Botschaftsvertreters beugte, in einem Israel-Porträt wider besseres Wissen Jerusalem als Hauptstadt anzugeben. Vor derlei war Flottau dank Regionalkompetenz, Professionalität und wegen der langen Zugehörigkeit zu seinem renommierten Blatt geschützt. Andererseits hatte nur Tage nach dem 9. November 2001 ein Sachwalter Israels im deutschen Medienbetrieb über ein Nachrichtenmagazin signalisiert, man behalte ihn im Blick. Bis heute finden sich in einschlägigen Internetforen Attacken gegen den geradlinigen Zeitzeugen, nicht zuletzt wegen seines jüngsten Buchs. Insofern ist „Die Eiserne Mauer“ ein mutiges Werk – für das sich fast erwartungsgemäß lange kein Verleger fand.
Erschienen ist es letztlich bei Christoph Links in Berlin; der hat Erfahrung mit der Herausgabe unbequemer Bücher. Ebenfalls folgerichtig gab es außer 30 Zeilen aus Flottaus eigener Feder in der „SZ“ – ein verbrieftes Mitarbeiter-Recht – auch keine Rezension in überregionalen Zeitungen oder großen Regionalblättern, obwohl dort Belegexemplare vorlagen. Man wünscht dem Buch trotz oder gerade wegen dieses beredten Schweigens noch manche Neuauflage.
Übernommen aus "inamo"
(Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten),
Heft 62.