Sie wird schreien wenn sie das liest: Barbara Thalheim ist sehr, sehr deutsch. Da flieht sie nun wann immer sie kann aus ihrem doppelten Vaterland nach Frankreich. Da hat sie sich reingedacht in das Nachbarland, kann in dessen melodiöser Sprache singen. Da kommt ausgerechnet sie in Deutschland dem Chanson am nächsten und nun nützt ihr das alles nichts: Sie ist diese grübelnde Deutsche, die Schwermütige, eine, die selbst im leichtesten Lied noch das Gewicht des Lebens begreift. Und sie selbst legt mit ihrem Buch "Vor dem Tod ist alles Leben" noch die Beweise auf den Tisch. Ein Buch voller Poesie und Denken, voller Tiefe und Tanz, voller Lautmalerei und Schweigen:

Dunkeldeutschland Dichterland
deine Wörter sind bekannt
Denkerland Dunkeldeutschland
Mene Mene Menetekel an der Wand

Sie ist im Osten geboren, Kind eines Kommunisten, der das KZ Dachau überlebt hat, der im französischen Exil von der Hand in den Mund lebte, der sich nach dem deutschen Krieg mit der DDR einen neuen, besseren Staat erdachte und der, nicht weit von seinem Tod entfernt, den Traum vom besseren Deutschland zerschellen sah. Das war genau jene Zeit, in der die Ost-Diseuse im Westen ankam, denn jetzt war Westen überall und Osten ein Schimpfwort. Nicht, dass die Thalheim nie vorher im Westen gewesen wäre: Ausgerechnet der West-Berliner Tagesspiegel, erfährt man aus dem Buch, hat 1977 gefordert: "Mehr Thalheim bitte!". Sie trat auch schon vor der Rückwärts-Wende in der Schweiz auf, in Dänemark und in Frankreich. Aber nun hatte sie den Westsalat, musste, wie all die anderen DDR-Geborenen, um ihre Biografie kämpfen, darum dass die noch irgendetwas gälte, übernahm die Verteidigung der eigenen Geschichte und sang sich an manchem Abend heiser:

Die Welt zum Heulen aber keiner weint
Geh aus mein Herz bezahl mit Scheck
Nichts schmilzt den Schee von gestern weg
Es ist die Kälte die uns eint
Es ist die Wärme die entflammt den Himmel ganz
mitsamt den Engeln und mit Gott
Wer sich bekennt der hängt am Kreuz zum Spott
Ich bin so müde

Was bei diesem und manch anderem Lied durch die Zeilen klingt, das ist Jean Pacalet, der französische Komponist und "Zwillingsbruder" der Thalheim, jener Jean, der im Buch mit vielen Noten und einer kleinen handschriftlichen Notiz vertreten ist: "Sie hat zugehört / Sie hat das Flugzeug genommen / Sie ist in seinem Garten auf Montmartre gelandet. / Er hat sie angesehen / Er hat ihr zugehört / Er hat das Flugzeug genommen" Ob Barbara und Jean die Vorlage für jenes Liebespaar waren, die in einer der Buch-Illustrationen von Linde Kauert aus dem Blüten-Pink in ein Himmelsblau schweben? Mag sein. Aber so wie die Liedtexte und die Essays keine Daten tragen, so haben die Bilder im Buch keine Namen, was ein Jammer ist: Denn das Wann und das Wer hülfe beim Verstehen eines klugen, warmherzigen und sehr deutschen Buches.


Barbara Thalheim präsentiert ihr Buch
bei einer musikalischen Lesung
am 24. 10. 2012 um 20.30 Uhr
im Buchhändlerkeller Berlin,
Carmerstraße 1, 10623 Berlin