Zur Arbeit der Wissenschaft fragt Wilhelm Heitmeyer in seinem zehnten und letzten Band "Deutsche Zustände", für wen sie denn Erkenntnisgewinne bereithalten solle. Eine Frage, die in Zeiten des Umbaus der universitären Forschung zum betriebswirtschaftlichen Instrument, zunehmend mehr schlechte Antworten erhält. Heitmeyer und seinen Mitschreibern darf man attestieren, dass sie ihre Erkenntnisse der Gesellschaft widmen und ihrer sozialen Verantwortung als Intellektuelle gerecht werden.

Wenn Heytmeyer die soziale Beschaffenheit Deutschlands in den letzten zehn Jahren als eine entsolidarisierte "Rette-sich-wer-kann-Gesellschaft" beschreibt, wenn er die vergangenen zehn Jahre als "entsichertes Jahrzehnt" analysiert, dann beruht die Basis dieser Arbeit auf einer Breite von 23.000 Befragten und die aktuelle Stichprobe zählt immerhin noch 2000 Telefoninterviews. Gründlicher ist kaum eine der bekannten Umfragen.

Die gesammelten Antworten aus den Interviews sind erschreckend: Dass die Weißen zu recht führend in der Welt seien, dem stimmen mehr Menschen zu als in den vergangen Jahren. Immer mehr Deutsche empfinden Obdachlose als "unangenehm" (38 Prozent) und widerliche 61,2 Prozent der Befragten glauben, dass die Langzeitarbeitslosen sich "auf Kosten der Gesellschaft ein bequemes Leben machen." Scheinbar beruhigend stellt die Studie fest, dass die Zahl derer zurück gegangen ist, die von den Juden glauben, in deren Verhalten läge ein Grund für ihre Verfolgung. Aber immer noch halten 15,8 Prozent Homosexualität für unmoralisch und 30,2 Prozent wollen den Muslimen die Zuwanderung untersagen.

Diese "Deutschen Zustände", stellt Gunter Hoffman in seinem Beitrag fest, wurzeln auch in einer öffentlichen Debatte, die zumindest bis zum Lehman-Brother-Jahr 2008, eine profitbesoffene Markt-Radikalität predigte und deren Protagonisten in den Medien und Wissenschaften ihren Irrtum bis heute nicht eingestehen. Im Gegenteil haben sich mit dem TV-Philosophen Sloterdijk und dem beamteten Gelegenheits-Rassiten Sarrazin zwei Lautsprecher für die Vertiefung der Kluft zwischen Arm und Reich gefunden, die beträchtliche Resonanz in den Medien bekamen.

Das gesellschaftlich akzeptierte Ressentiment gegenüber sozial Schwächeren und Ausländern findet seine staatliche Entsprechung in der Statistik über rechtsextremistische Gewalt. Frank Jansen weist in seinem Beitrag nach, dass Richter und Polizei häufig klare rechtsextreme Tatmerkmale zu privaten "menschenverachtenden Einstellungen" werden lassen, weil dann die Statistik politisch besser aussieht. So kommt es dann zu der bekannten Diskrepanz zwischen den Regierungszahlen, die von 47 Todesopfer rechtsextremer Gewalt wissen und den 147 Opfern, die von drei Zeitungen ausgemacht wurden.

Schließlich warnt Albrecht von Lucke vor der Skandalisierung der "Tabubrecher", der Walsers, Buschkowkys oder Sarrazins, die mit dem Gestus des Kämpfers gegen politische Korrektheit sich besser als Opfer darstellen können, wenn man ihnen öffentlich ungeschickt entgegen tritt. Obwohl von Lucke mit seinen taktischen Hinweisen recht hat, setzt er mit der Analyse doch zu spät ein. Interessanter wäre zu fragen, warum zum Beispiel die Sarrazinschen Vorabdrucke in SPIEGEL und BILD möglich waren und was den Bertelsmann-Konzern bewogen hat, das rassentheoretische Buch in sein Verlagsprogramm aufzunehmen.