Wenn es gut geht, möchte man nach einer ordentlichen Handke-Lektüre nur noch mit dem Bleistift schreiben. Es kann aber auch vorkommen, daß man nie wieder lesen will.
Elke Schmitter
Meister Peter aus dem Speckgürtel von Paris hat zum iksten Mal den Bleistift gespitzt und ein neues Werk geschrieben, betitelt: Der Große Fall. Der Text ist überaus großzügig gesetzt, Suhrkamp sei Dank, in nicht zu kleiner Schrift, mit einem gehörigen Zeilenabstand, und deshalb gut lesbar für ältere Menschen. Als Nebeneffekt steigen Seitenanzahl und Gewicht. Das Buch liegt ordentlich in der Hand, wie es sich für einen echten Handke gebührt. Sparsam gedruckt wäre es wohl halb so dick geworden und etwas zu preiswert.
Der Autor hat uns jede Menge zu erzählen, aber Handlung im eigentlichen Sinn (als fortgesetzte Interaktion) findet wenig statt.
Ein namenloser Schauspieler, der schon jahrelang keine Rollen mehr angenommen hat, wandert mit offenen Schnürsenkeln, aus der Landschaft fallend, einen Tag durch die Vororte bis in die nächtliche City. Er kommt von einer Frau und geht zu dieser Frau und erkennt zuletzt, dass er ihrer nicht würdig ist. Warum nur? Ein wenig Schauspielerei muss sein. Morgen soll er auf dem Set einen Amokläufer geben, eine Rolle, für die er etwas alt scheint.
Unser Bühnenheld ist ziemlich fertig und das ist kein Wunder. Wenn einer dreißig Jahre Regietheater ausgehalten hat, kann es schon passieren, dass er nachts splitternackt zum Kühlschrank schleicht, sich mit Tomatenketchup einkremt und dazu Artikel 1 aus dem Grundgesetz rezitiert. Daran ist Handke nicht ganz unschuldig.
Der Schauspieler erleidet auf seinem Weg mehr oder weniger flüchtige Begegnungen. Er trifft auf den joggenden Präsidenten, weilt bei einem Priester, der ihm die stille Messe liest, entrinnt prolligen Polizisten und liegt neben einem faulenden Clochard. Obwohl er querfeldein durch ein fremdes Land geht, findet er allenthalben Bekannte, die sich seiner aber nur schwach erinnern. Längere Dialoge sind die Ausnahme.
Öfters stößt man auf Reflexionen des Künstlers über staatliche Gewalt und Vorstadtkämpfe, die den Überzeugungen des Autors ähneln dürften. Auch deshalb schreibt sein Schöpfer Handke gern: Mein Schauspieler. Der nimmt immer wieder Bezug auf internationales Kino, sei es nun Tati oder Rocky und 007. Vergeblich suchen wir ein theatralisches Statement wie dieses: Damals, als ich unter Zadek durch die Publikumsbeschimpfung tobte.
Immerhin hat sich Handke in der humorfreien Tiefe des Textes einen kleinen Scherz erlaubt, der der Aufmerksamkeit des Suhrkampschen Lektorats entgangen sein mag. In der Vorstadt kommen auf den Schauspieler halbstarke Jugendliche zu. Sie tragen Basketballschläger, nachrichtenweise bekannt als Totschlagsinstrumente… Was wohl Dirk Nowitzki dazu sagt?
Über weite Strecken arbeiten sich die LeserInnen durch eine Melange aus taktilen Empfindungen, Geräuschen und Gerüchen. Kaleidoskopisch wechseln entfernte Erinnerungen mit zweifelhaften Begebenheiten. Nur selten verdichtet sich der pastöse Text:
Danke, Bleistiftmine, daß du heute nur einmal gebrochen bist.
Endlich ist Handke in der City angelangt und sein Schauspieler rettet den fernen Sohn, der vielleicht ein schweres Problem hat, indem er ihm einen Brief schreibt, den er nicht adressieren kann. Die Post wird es richten.
Im Weichbild der Stadt schließt der Showdown mit den bedeutungsschwangeren Sätzen:
Er stand, und stand, und stand. Dritter Hunger, der große. Zeit für den zweiten Sanften Lauf.
Statt dessen der Große Fall.
Die RezensentInnen landauf und landab rätseln: Ein Unfall, ein Kriminalfall oder etwa ein Bandscheibenvorfall? Nein, liebe LeserInnen, das ist nichts als Peter Handkes finaler Lachanfall, weil er es wieder mal geschafft hat, die Literaturszene zu veraftern.
Zuallerletzt steht gedruckt:
Great Falls, Montana Juli-September 2011
Kann es sein, dass die wirkliche Erzählung erst jetzt geschrieben wird?