Das ist kein Buch, das ist ein Weltvorhaben. Aus dem Nachlass von Ralf Schröder hat die Edition Schwarzdruck dessen Vorhaben, den Untergang des Staats-Sozialismus mittels seiner Literatur zu erklären, weitergeführt. Der Slawist, Literaturwissenschaftler und Verlagsdirektor für sowjetische Literatur in der DDR, Ralf Schröder, gehörte zu einer aussterbenden Sorte der menschlichen Gattung: Reich gebildet, dem Ideal einer neuen, besseren Welt verpflichtet, hat er bis zuletzt versucht, dieser Welt ein Stück Hoffnung durch Analyse einzuflößen. Dass er 1958 als Rädelsführer einer "partei- und staatsfeindlichen Gruppe" zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, ähnlich der Gruppe Harich, mit der er manches teilte, hat ihn auch nach seiner Entlassung nicht gehindert, an einem anderen, demokratischen Sozialismus zu arbeiten.
Schröder kannte die sowjetische Literatur wie kaum ein anderer. Er entdeckte in den Büchern von Granin, von Tendrjakow oder Trifonow - jenen Schriftstellern der sowjetischen Tauwetterperiode, die ihm seelenverwandt waren - das Subversive. Jene Spannung zwischen dem Gewissen des Einzelnen und gesellschaftlicher Verantwortung, von der Schröder hoffte, dass sie zu einer zweiten Revolution führen könne, die den sowjetischen Bürokratismus und mit ihm die erstarrte DDR zurück zur Rätedemokratie wandeln würde. Zu einem Modell, mit dem der einstige Sozialismus seine Existenz begonnen hatte. Es waren solche Überlegungen, die ihm den Trotzkismus-Vorwurf eintrugen, denn Trotzkis Formel von der "permanenten Revolution" war seinen Postionen zu ähnlich. Ein Vorwurf, der im sozialistischen Großreich nicht weit von einem Todesurteil entfernt war.
"Unaufhörlicher Anfang", so lautete der Titel des Schröderschen Buches, und der vorliegende Band atmet diese Unaufhörlichkeit, denn er ist, nach dem Tod des Autors, unfertig, eine Baustelle geblieben. Eine Baustelle auf den Ruinen der DDR, deren Brocken den Linken bis heute um die Ohren fliegen. Doch mitten in dieser Ruine blieb Schröder das, was er wohl sein Leben lang war: Ein treuer Renegat, einer der die große Idee, die das Unten nach oben kehren sollte, unter den Bedingungen der immer enger werdenden realsozialistischen Welt verfocht. Seine Analyse lässt ihn zwar die kleine Gruppe deutscher Kommunisten begreifen, die nach dem Krieg letztlich gegen das eigene, faschistisch kontaminierte Volk eine Diktatur begann, um einer besseren Zukunft willen. Aber dass sie stehen blieben verzieh er nicht. Kritisch blickt er auf den Versuch der Sowjetunion 1917, den Sozialismus in nur einem Land aufzubauen. Und er notiert eine entschiedene Abrechnung mit dem Stalinismus, den er auch in den Strukturen der DDR feststellte. Doch liest man keine Zeile des Jammerns über seine Haft, kein Bedauern am gescheiterten, sozialistischen Großversuch teilgenommen zu haben. Nur Wut und Trauer über das Scheitern ist nachzulesen.
Gleich hinter der mittelalterlichen Stadtmauer von Gransee, im Landkreis Oberhavel, hat die Edition Schwarzdruck ihren Sitz in einem alten Kornspeicher. Dort fertigt der Verleger Marc Berger, inmitten einer Welt aus Drucklettern und alten Pressen, seine Bücher fast noch mit der Hand. Kleine Preziosen mit Texten von Anna Seghers, Wolfgang Kohlhaase und Christoph Hein entstehen dort. Eine Reihe heißt "Freche Hefte". In ihr erfährt eine wunderbare Arbeit von Tucholsky ihre Wiederauferstehung. Und in einer Sachbuchreihe erscheinen Fußnoten zur DDR, in der auch der "Unaufhörliche Anfang" beheimatet ist. Schröders Buch mit seinem üppigen Materialschatz ist nicht nur eine Fundstelle für Slawisten, sie ist eben auch eine dieser Fußnoten zu einem Land, aus dessen Scheitern zumindest Erkenntnisse gewonnen werden können.