Langsam setzt sich der Waggon in Bewegung, der Zug, den Orhan Pamuk durch die Geschichte der Türkei fahren lässt. Drei Generationen lang ermöglicht Pamuk dem Leser mit dem Buch "Cevdet und seine Söhne" eine Reise zu starten und zu vollenden, die 1905 beginnt und in den 70er Jahren des vergangen Jahrhunderts ihr Ziel erreicht. Zu keinem Moment mag man die Vorhänge der Fenster zuziehen. Jede Unterbrechung, außer es würde Tee gebracht, erscheint lästig. Melancholisch pfeift die Lokomotive. Sanft rollen die eisernen Räder.

Als Cevdet, der Patriarch und Gründer jener Sippe, deren Entwicklung im Werk von Pamuk ein buddenbrooksches Format erlangt, mit seiner Lampenfabrikation beginnt, ist das Osmanische Reich fast am Ende: Serbien gehörte mal dazu, auch Bulgarien auf der einen, Ägypten und Jemen auf der anderen Seite. Doch die Kraft, die dieses Großreich zusammenhielt, erlischt langsam. Auch, weil die europäischen Imperien - England, Frankreich, Russland - Stücke aus dem alten Konglomerat für sich beanspruchen. Der Nationalstaat zeichnet die Zukunft, die Vielvölkerstaaten, ob Österreich-Ungarn oder der Osmanische Flickenteppich, beginnen Geschichte zu werden. Cevdet kümmert das kaum. Er ist einer der wenigen Muslime in Istanbul, der es zum wohlhabenden Kaufmann gebracht hat: Noch sind es Griechen und Juden, die den Handel beherrschen.

Ganz beglückt ist der junge Kaufmann, weil ihm die Hand einer Pascha-Tochter versprochen ist. Denn so ein höherer Beamter als Schwiegervater, der verspricht Beziehungen, Protektion und damit Gewinn. Während Cevdet sich auf seinen Geschäftserfolg konzentriert, ist das Land um ihn herum in Aufruhr. Das vor allem von der Armee als Schmach empfundene Zerbrechen des Reiches, lässt die jungen Offiziere, die "Jungtürken" erfolgreich gegen den Sultan putschen. Der Weg zur modernen Türkei, zum türkischen Nationalstaat, hat begonnen. Zum Vorbild aller Modernisierungen nehmen sich die Türken die Gewinner-Länder jener Zeit: Franzosen, Engländern, aber auch die Deutschen werden zum Kopieren genutzt. Es sind jene Christen, deren Schrecken man noch vor ein paar Jahrhunderten war, die nun den Kanon bestimmen.

"Sie beugen sich vor, küssen die Frau auf die Hand, und danach machen sie so unbefangen weiter wie eh und je. Wie schaffen sie das? Sie sind eben nicht wie wir. Christen!" Es ist diese aus Mischung Neid und Ablehnung, die den Cevdet der türkischen Gründerjahre beherrscht, wenn er über Europa und die Europäer rätselt. Und diese Melange wird sich bis zu den letzten Seiten des neuen Pamuk halten. Einen "orientalisch rosa-lila gefärbten europäischen Traum" nennt Pamuk an anderer Stelle die von Atatürk eingeleiteten Reformen, einen Traum, der den Mittel- und Oberschicht-Türken seines großen Romans sowohl ein Gefühl der Unsicherheit als auch einen übersteigerten Nationalismus bescheren wird. So geht es mit den späten Nationen, die Deutschen sollten das gut nachempfinden können.

Brav führt der älteste Sohn von Cevdet die Geschäfte, gründet eine Familie der nächsten Generation und fährt im Sommer auf eine der Prinzeninseln, wie alle, die sich dort ein Haus leisten können. Der zweite Sohn und seine beiden Freunde, stehen für Zweifel, die ihrer Karriere entgegenstehen und die zugleich Zweifel am Weg der Türkei sind: Heiraten, Kinder kriegen, ein Geschäft führen? Wie soll das mit der europäischen Aufklärung vereinbar sein? Da will der eine, in London ausgebildet, ein Eroberer werden, einer der etwas ganz Außerordentliches machen wird. Der andere pendelt zwischen dem Familiengeschäft und dem Wunsch nach Reformen jener Art, die seinen Türken mehr Teilhabe am Staat geben könnten. Und der Dritte flüchtet sich aus dem routinierten Alltag in den Traum Dichter zu werden. Alle drei werden scheitern und sind, aus eben diesem Grund, die interessantesten Figuren des Romans.

In nur zwei Generationen haben die Türken ihre tradierte, arabische Schrift zur lateinischen ändern, ihre Kleidung wechseln - vom Fez zum Zylinder, vom Kopftuch zum offenen Haar - und ihrem gewohnten Islam einen Platz hinter dem Staat einräumen müssen. Diese Revolution von oben, diese in keiner Phase demokratisch legitimierte Modernisierungsdiktatur, prägt die Menschen in Pamuks Roman und gibt dem Leser so die Möglichkeit, an dieser brachialen Entwicklung teilzuhaben. Es wird ein Maler sein, ein Künstler, mit dem die dritte Generation das Buch beschließt. Und es ist ein mal wieder drohender Militärputsch, der einen von Cevdets Enkeln, die, wie auch immer, die Geschäfte weiterführen, sagen lässt: "Die sollen ihren Putsch machen, wann sie wollen, aber bitte nicht heute abend!" Und es wird Orhan Pamuk sein, der fast vierzig Jahre nach Niederschrift seines bereits 1978 vollendeten Romans einen Artikel darüber schreiben wird "Wie der Traum von Europa verflog"

Längst sind die Weichen in der Türkei auf eine weitere Wandlung gestellt: Ein relativ sanfter Islam hat sich neben den laizistischen Staat gestellt, der türkische Zug hat eine Fahrt genommen, die ihn heute als lokomobiles Beispiel für andere islamisch geprägte Länder erscheinen lässt. Der Fahrplan dieser Staaten wird, seit dem Aufbruch in Ägypten und Tunesien, wohl nicht mehr in Europa oder den USA geschrieben. Erzähler wie Orhan Pamuk waren und sind es, denen wir diese Fahrplanänderung zu verdanken haben.