Plötzlich und unerwartet. Das liest man nicht selten in Todesanzeigen. Und es ist der Tod, der in einem jüdischen Viertel in den USA Einzug hält. Plötzlich und unerwartet sterben zumeist junge Menschen, oder, wenn sie die Epidemie überleben, die Kinderlähmung heißt, bleiben sie ein Leben lang Krüppel. Mit dem Namen der Rachegöttin "Nemesis" titelt Philip Roth sein neuestes Buch und es gelingt ihm ein dichtes, schauerliches Drama, über einen Fluch, der über die Leute kommt und darüber, wie Unwissen die Angst vergrößert. Denn in diesem Sommer 1945, dem Sommer der Verheerung durch Polio, weiß man noch nicht, woher die Kinderlähmung kommt und wie sie zu bekämpfen ist.

Der Sportlehrer Bucky Cantor hält der Panik seinen gestählten Körper und seine guten Nerven entgegen: Seit seiner Jugend kompensiert er eine extreme Kurzsichtigkeit mit sportlichen Übungen und besonderem Mut. Er ist es, der ein paar italienische Jungs, die versuchen seine jüdischen Jungs zu provozieren, scharf zurückweist. Und doch rotzen die Italiener auf seinen Sportplatz: Sie wollen "Kinderlähmung verbreiten". Denn scheinbar hatte der Polio-Erreger seine tödliche Ernte in einem italienischen Viertel begonnen und die nationale Rivalität verlangt, dass sich die Juden gefälligst auch anstecken, und die wiederum glauben fest daran, dass die Rotze schuld an den ersten jüdischen Fällen von Polio sei.

Es ist der letzte "gute" Krieg, der gegen deutsche und japanische Faschisten, den die USA führt. Und alle Freunde von Bucky Cantor sind an der Front. Auf den Straßen sieht man kaum Männer seines Alters und der Lehrer schämt sich darüber: Seiner extremen Kurzsichtigkeit wegen hat ihn die Armee nicht genommen, sein Gebrechen wird ihm zur doppelten Last, der wirklichen Behinderung wegen und der Belastung seines Stolzes: Ist er nicht auch Mann, muss er nicht auch seine Heimat verteidigen, was steht er hier herum, auf einem kleinen Sportplatz, den er in den Schulferien betreut? Also nimmt er den Kampf gegen Polio als Ersatz für den wirklichen Krieg, er räumt auf, säubert den Waschraum des Sportplatzes, um den anonymen Virus weg zu waschen.

"Ich möchte Ihnen die Hand schütteln, junger Mann," sagt ein Vater seiner Schüler zu Bucky, "Sie haben diesen Itakern gezeigt, was eine Harke ist. Diesen dreckigen Hunden." Und wenn es nicht die Itaker gewesen sind, dann könnte es der Hotdog-Verkäufer sein, glaubt man, bei dem einige der infizierten Kinder gegessen haben oder auch der Idiot des Viertels, ein zurückgebliebener Mann Ende Dreißig, der sich gern in der Nähe des Sportplatzes aufhält: Die Jungen vertreiben ihn, der sich nicht wäscht, der ein Virusträger sein könnte. Die Seuche verändert das beschauliche Viertel, in dem man sich kennt und in dem man die Nähe seiner jüdischen Nachbarn schätzt, weil Bekanntes bisher Schutz zu bieten schien. Jetzt dringt das Unbekannte ein, das Fremde, die Krankheit.

Der Tod vieler seiner Schüler lastet auf dem Gewissen des Lehrers: Er war doch für sie verantwortlich, wie konnten sie ihm wegsterben? In seiner Hilflosigkeit fragt er seinen Gott, warum der das ihm, den Jungen und den Familien antut. Bucky und will nicht "vor einem kaltblütigen Kindermörder im Staub . . . kriechen". Es erscheint ihm wie eine Versuchung, als ihm seine Freundin einen Job als Ferienbetreuer in einem Sommercamp anbietet: Weit weg von der verseuchten Stadt, in die gesunde Natur soll er kommen und natürlich auch zu seiner Liebe. "Du hast ein Gewissen", beteuert ihm der Vater seiner Freundin, " und ein Gewissen ist etwas Wunderbares - allerdings nur solange es nicht anfängt, dich für etwas verantwortlich zu machen, das außerhalb deines Verantwortungsbereiches liegt."

Bucky wird in das Sommercamp fahren und es wird Fälle von Polio im Camp geben und das Gewissen des jungen Mannes wird den Leser bis zur letzten Seite begleiten. Auf diesem Weg wird Philip Roth eine Lektion erteilen: Über die Grenze von Verantwortung und die Entgrenzung durch Panik. Dass er dem Leser zugleich eine wunderbare Lektüre schenkt, versteht sich bei einem Autor seiner Größe von selbst.

Lange nach dem Sommer 1945 gibt der Markt und der Kalte Krieg eine Lektion, die im Buch von Roth keinen Platz hat aber eine Fußnote wert ist: Zwei von mehreren Vätern des Antipolio-Mittels, der amerikanische Arzt Jonas Salk und sein auch in den USA lebender Kollege Albert Sahin entwickeln beide ein eigenes Mittel. Das von Salk kommt zuerst auf den Markt, obwohl es noch Fehler aufweist. Für das Medikament von Sahin, das sich als das besser herausstellt, stehen deshalb keine finaziellen Mittel mehr für die notwendigen Massentests zur Verfügung. Sahin gibt seine Forschungsergebnisse an die Sowjetunion. Dort wird das Mittel erfolgreich verbreitet. Bereit ab 1960 wurde in der DDR, dank ihrer Beziehungen zur Sowjewtuinion, die Schluckimpfung flächendeckend eingesetzt, in der Bundesrepublik, die des kalten Krieges wegen einen Umweg zum Medikament über Österreich suchte, kam es erst zwei Jahre später zum Einsatz. Das sollte ein paar Tausend Tote kosten.