Es treibt ihn um, den Richard Wagner, es treibt ihn über Deutschland zu schreiben, "Vom Schicksal eines guten Landes", wie es im Untertitel seines neuen Buches "Der deutsche Horizont" heißt. Wagner legt einen langen Essay vor, eine Suada über den Zustand Deutschlands, den er nicht gut heißen kann. Der Autor ist belesen, er kennt fast alle und fast alles, das verführt ihn zu glauben, er wisse es besser. Und schnell hat er auch die Hauptschuldigen an der deutschen Misere ausgemacht, die "68er" und die von denen erfundene Erinnerungskultur: "Eine Nation, " so Wagner, "lässt sich nicht am Massengrab aufstellen". Und eine Nation, unsere deutsche, die möchte er schon gut aufgestellt sehen, Auschwitz hin oder her.
Es ist eine große Aufgabe, die sich der Schriftsteller gestellt hat und sie verlangt immenses Wissen, was mehr ist als Belesenheit, sie erfordert jene intellektuelle Redlichkeit, die wachsam den eigenen Anspruch, die eigene Position kontrolliert. Schon zu Beginn des umfänglichen Buches, in dem der Autor mit dem Ende der DDR die erneute Frage nach der deutschen Nation begründet, verengt er die historische Perspektive auf seine Sichtweise, wenn er die Charta 77, die Solidarnosc und die ungarische Grenzöffnung als wesentliche Beschleuniger des Endes der DDR vermerkt, aber die Sowjetunion zur Zeit der Perestroika und das Handeln der DDR-Bevölkerung ausblendet. Dem Banat-Deutschen Wagner ist die Sowjetunion so gründlich verhasst, dass er selbst ihre lichteren Momente nicht wahrnehmen will. So geht es ihm auch mit der DDR-Intelligenz: Weil er sie als Nutznießer des DDR-Staates begreift, leugnet er ihre Rolle in der Bürgerbewegung, die, gewollt oder nicht, erheblichen Anteil am Ende des deutschen Sozialismus-Versuches hatte.
Dem "guten Land", sagt Wagner, geht es schlecht. Dass es den Deutschen nicht so gut geht, wird keiner bestreiten. Und da viele im Land nach den Schuldigen für die schlechte Lage suchen, sucht Wagner mit und findet die "68er". Es ist vermeintlich die Generation der Schröders und der Fischers und deren fatale Fixierung auf jenen Abschnitt der Geschichte, den man das Dritte Reich nennt, die uns die "Dekonstruktion der Autorität", eine laxe Arbeitsmoral, einen verfehlten Pazifismus und den Verzicht auf Krawatten eingebracht hat. Es hilft nichts, da Wagner nicht der einzige ist, der mit den "68ern" Ideologie betreibt, die sich als gesellschaftliche Analyse ausgibt, müssen an dieser Stelle die "68er" erklärt werden.
Es gab ganz viele, ganz unterschiedliche "68er", das Spektrum reichte von dem bei der kleinen Stadt angestellten Juso aus der Eifel, dem von seiner stockkonservativen Umgebung beigebracht wurde, dass die brave, westorientierte SPD von Moskau gesteuert sei; über den Frankfurter Theologiestudenten, der den Vietnamkrieg amoralisch fand; bis zur Münchner Buchhändlerin, die auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur nachholte und dort den "Bildungsnotstand" entdeckte. Es gab nicht viel was sie gemeinsam hatten, außer ihrer Jugend und dem Erschrecken, als sie entdeckten, dass ihr gutes Land eine grausige, öffentlich und vielfach auch privat beschwiegene Vergangenheit besaß. Die Entdeckung, über ihre Herkunft jede Menge Lügen aufgetischt bekommen zu haben, die sich in Sätzen wie "Wir haben den Krieg verloren" oder "Immerhin hat Hitler die Autobahnen gebaut" manifestierten, ließen diese jungen Leute staatsfern werden.
So unterschiedlich die Herkunft der "68er" war, so unterschieden sich auch ihre späteren Wege: Der eine ist heute Geschäftsführer eines Immobilienfonds, die andere Gleichstellungsbeauftragte einer Stadtverwaltung und der Theologe wurde Funktionär der "Konrad-Adenauer-Stiftung". Und jene, von denen Wagner meint, dass sie den gesellschaftlichen Diskurs bis heute bestimmen, die Schröders, Schilys und Fischers, die konnten ihre gesellschaftlichen Positionen nur durch Abschwören ihrer ursprünglichen Ziele erreichen. Sie wurden das, wovor wir uns immer gewarnt hatten: Funktionäre, die ihren Vätern zum Verwechseln ähnlich sehen, deren Taten allerdings nie so groß waren, dass sie Untaten hätten werden können. Und die Macht, um die es im Revolutionsgerede jener Zeit angeblich ging, die Macht sitzt nach wie vor in den Konzernzentralen und lacht sich eins.
Auf dem Weg zur Dämonisierung der "68er" muss sich Wagner auch mit dem Algerien- und dem Vietnamkrieg beschäftigen und entwickelt an den beiden Themen seine Methode: Nicht, dass ihm diese Kriege, deren Folterschreie noch zu hören und deren verbranntes Fleisch noch zu riechen ist, ihm Anlass zur historischen Reflexion sind. Er sieht die Kriege nur als Folien für die "intellektuelle Positionierungen, die innenpolitische Grabenkämpfe markierten", die bis heute das deutsche Land zu prägenden Denkmustern führen. Nur logisch begreift er die Nichtbeteiligung Deutschlands am Irak-Krieg als einen fatalen Sonderweg, der uns aus der Westbindung (meint: die enge Nähe zur USA) herausführen könnte. Dass es kaum den nationalen Interessen entspräche, in diesen längst all seiner Vorwände entkleideten Krieg verwickelt zu werden, ist ihm bis heute nicht transparent.
Die Wagnersche Methode, statt der Inhalte politischer Vorgänge, deren instrumentelle Seite als Kernthema zu nehmen, beweist sich nachdrücklich, wenn er anlässlich des Irak-Krieges seinen bösen Blick auf den "Antiamerikanismus" wirft der ein Zwilling des "Antisemitismus" sei. So, als gäbe es weder Israelis noch Amerikaner, die mit dem Handeln ihrer Regierungen ebenso unzufrieden sind, wie deutsche Kritiker einer Nah-Ost-Politik, deren Inhalt, hinter der Maskerade der Demokratisierung, sich wesentlich auf die Sicherung der Ölressourcen für die USA bezieht. Was sind denn die innerisraelischen, die inneramerikanischen Kritiker dieser Politik? Auch Antisemiten und Antiamerikaner? Mit so bescheidenem intellektuellen Gehalt kann die Methode Wagners auch die Kritik an den Positionen des Autors für undeutsch erklären.
Manchmal kann Wagner über unsere nationalen Eigenheiten sehr ungehalten werden, so, wenn mit dem "deutschen Fetisch Statistik" sich die Arbeitslosigkeit als "Thema Nummer eins eingebrannt" hat. Wieder ist es nicht das konkrete, Millionen Menschen herabwürdigende Geschehnis, das der literarischen Behandlung wert wäre, es sind die "Drohungen am Medienhimmel", die dem Manne störend wirken. Aus solchen Denkfiguren rühren Euphemismen wie die "Einstellungsskepsis des Managements", die der Autor natürlich auf einen viel zu starren Kündigungsschutz zurückführt oder FDP-Kampfbegriffe wie die "Neiddiskussionen". Es bleibt dem wirtschaftspolitischen Denker Wagner nichts anderes übrig: Er muss die Arbeit befreien! Denn "man hat Arbeit abhängig gemacht". Nicht der Beschäftigte ist abhängig, nach Wagner ist es ist "die Arbeit", weil die "Verknüpfung von Arbeit und Sicherheit" zur "Faulheit und Trägheit verführen".
Richtig heiter wird es, wenn der Allerweltsexperte Wagner sich der Zerstörung der Stadt, der Urbanität zuwendet und die sich dort, in den Innenstädten breit machenden Ausländer für diesen Prozess verantwortlich macht. Weis Wagner nichts von der "autogerechten Stadt" der 50er und 60er Jahre, von jenem Stadtplanungsprozess, der Straßen, Plätze und Denkmäler in Europa zerstörte um Platz für das Auto zu machen, dem ganze historische Stadtfiguren geopfert wurden, ohne dass ein einziger Ausländer daran Schuld trug? Hat er wirklich noch nie von der mit Steuergeldern geförderten und von konservativer Ideologie befeuerten Eigenheimbewegung gehört, die zur Zersiedlung von Landschaft ebenso beigetragen hat, wie zur Entleerung von Innenstädten? Wer darüber klagt, dass "die Boulette dem Döner gewichen" ist, der kennt weder die Boulette noch weiß er, dass gerade in Berlin, in der stark von Ausländern geprägten Stadt, ihre Bewohner wieder in das Zentrum zurückkehren, zu einer neuen Urbanität finden. Das muss der Autor ja nicht wahrnehmen, er wohnt ja nur dort.
Wagner wohnt hier nur, sein Leben muss in einem anderen Land stattfinden, denn das unsere, wo wir uns finden, um unsere Vaterlandsliebe durch Kritik an den unzureichenden Verhältnissen zu beweisen, das kennt er nicht. Er verteidigt immer noch Wien gegen die Türken und verwechselt Deutschland mit dem heiligen römischen Reich deutscher Nation. Wenn er denn wenigstens historisch trittsicher wäre. Aber selbst in seinem Schlusskapitel leistet er sich die Konstruktion eines Zusammenhanges zwischen Christentum und Arbeitsethos, die sich natürlich gegen die faulen Islamis richtet und nicht begreift, dass der calvinistische Arbeitsbegriff sich gegen die faulen Katholiken gerichtet hat. So einer hält den Stammtisch für die Quelle der Philosophie, die Beliebigkeit für Vielfalt. Und er wird Erfolg haben im Feuilleton, denn so viel Allgemeinplätze gelten dort allemal als Weisheit.