Wenn der alte Mithat in heller Windjacke und Sommerhut mit seinem Aktenköfferchen durch Istanbul wandert, wirkt er wie aus einer vergangenen Zeit. Daheim im vierstöckigen alten Mietshaus hat er diese Zeit eingefangen in seiner "Kollektion", die ihm selbst nur noch enge Trampelpfade in seiner Wohnung lässt und vor der einst seine große Liebe kapitulierte und auszog. Von seiner Familie hört er nur noch per Telefon, Besuche kann er erst erwarten, wenn er "aufgeräumt" hat, wozu man ihm sogar eine Putzfrau schicken will. Wie durch einen Irrgarten aus Zeitungsstapeln, Schneiderpuppen, unzähligen Uhren und Aufnahmegeräten folgt ihm die Kamera durch den Dschungel seiner Wohnung, und der Keller ist feucht und schon fast voll. Auch unter seinen Nachbarn hat Mithat keine Freunde, seit er sich deren Plänen widersetzt, das Haus abreißen und modern neu bauen zu lassen, weil es angeblich erdbebengefährdet ist. Nachbar Ruhi hat ihm schon die Behörden auf den Hals geschickt, aber Mithat will nicht weichen, und er kennt seine Rechte.
Sein einziger Verbündeter ist der junge Hausmeister Ali, ein schlichtes Gemüt aus der Provinz, der seine Familie zurück aufs Land schicken musste, weil das Asthma seiner Tochter die feuchte Parterrewohnung nicht vertrug. Ali hat noch nicht unterschrieben, obwohl der Druck der Nachbarn immer größer wird und die Möbelwagen immer öfter vor dem Haus stehen. Gegen Bezahlung erledigt er für Mithat Besorgungen, aber er träumt von einem besseren Job und einer neuen Wohnung für seine Familie. Vorerst aber reicht es nur zu ein paar neuen Hemden, die Ali noch unausgepackt in Mithats Kartons im Keller findet und mit weiteren Fundstücken heimlich wieder in den Kreislauf der Warenwirtschaft zurückführt. Lange kann es nicht mehr dauern, bis er die Kaution für ein neues Zuhause beisammen hat…
"In diesem Land kann man nichts mehr bekommen, das nicht in Mode ist", beklagt Mithat sich bei einem Straßenverkäufer, der die gewünschten Brillen nicht mehr führt, und dass die Zeitung vom Vortag nicht mehr zu beschaffen sein soll, raubt ihm fast den Schlaf. Man könnte solches Sichsperren gegen den Lauf der Zeit milde belächeln und als Altersstarrsinn abtun, doch wenn dies die Absicht der jungen Regisseurin Pelin Esmer gewesen wäre, hätte sie ihre Hauptfigur wohl kaum mit ihrem Onkel Mithat Esmer besetzt. Der bringt für die Rolle zwar keinerlei Schauspielerfahrung mit, dafür aber just jene Kollektion, die auch in der Realität sein Leben bestimmt und für seine Nichte Pelin die Inspiration zu ihrem Film wurde. Dialogsätze wie „Eine Kollektion verkauft man nicht“ dürften ihm wie selbstverständlich von den Lippen gekommen sein. Die Natürlichkeit seines Spiels gibt dem Film quasi eine dokumentarische Grundierung, die in reizvollem Kontrast zur kunstvoll gesponnenen Geschichte.
Die nämlich handelt nur vordergründig vom bizarren Widerstand eines alten Kauzes gegen Veränderungen und vom schmerzhaften Lernprozess, den er dabei durchmacht. An Brechts Herrn Puntila und seinen Knecht Matti erinnert die Beziehung Mithats zu Ali, die Esmer als einen subtilen Machtkampf gestaltet: den nie im Kommandoton, aber immer bestimmt und mit einer Art selbstverständlicher Arroganz geäußerten Wünschen Mithats begegnet Ali, indem er sie freundlich ignoriert oder nicht so wichtig nimmt. Und für Mithats wichtigstes Objekt der Begierde, den ihm noch fehlenden elften und letzten Band einer Istanbul-Enzyklopädie hat sich Ali etwas ganz Besonderes ausgedacht. Wer den Sinn des Filmtitels "10 vor 11" (türkisch: "11’e 10 kala") in der eine ganze Wand füllenden Wanduhrensammlung Mithats vergeblich sucht, wird hier vielleicht auf hintersinnige Art fündig – in einem "Happyend", das zu Ende gedacht doch keines ist.
Der Film kommt am 28. April in die Kinos