In Bücher von Mario Vargas Llosa einzutauchen kann wie ein schöner Ausflug in die Fremde sein, jenes Ausland, von dem wir immer annehmen, dass es auch uns verändert, wenn wir es besuchen. Wenige Ausländer eignen sich so gut dazu wie Lateinamerika: Farbig in vielerlei Hinsicht, durch seine Kolonialgeschichte zugleich europäisch geprägt und deshalb, verschämt gestehen wir es ein, uns verständlicher als manche andere Gegend. Zugleich bleiben die lateinamerikanischen Länder durch ihren indigenen Ursprung geheimnisvoll genug, um uns lösbare Rätsel aufzugeben, so wie jenes Peru, in dessen 50er Jahren der neue Roman von Vargas Llosa, "Das böse Mädchen", seinen Ausgang nimmt.

In einer Mittelschichtenidylle in Lima - man tanzt Mambo, fährt mit Papas Cabrio die Uferstraßen entlang, geht ins Kino und träumt von Frankreich - taucht die kleine Chilenin auf, die chilenita und lässt die Jungenclique um Ricardo, die zentrale Männerfigur des Buches, den Atem anhalten: Wie sie tanzt! Wie hinreißend fremd ihr Akzent ist! Um wie vieles schöner und kultivierter Santiago de Chile in ihren Erzählungen aufschimmert als die peruanische Hauptstadt! Doch die kleine Chilenin ist, so stellt sich heraus, nur eine Peruanerin und dazu noch aus viel ärmerem Milieu als die Leute um Ricardo: Sie ist "Das böse Mädchen" für Ricardo und wird es für ihn, der die kleine, angebliche Chilenin besinnungslos begehrt, bis ans Ende des Buches, fast bis an sein Lebensende, auch bleiben wird.

Vargas Llosas Ricardo hat, nächst dem bösen Mädchen, das er aus den Augen verlieren wird, nur ein Ziel: Er will in Paris leben. Das hätte misstrauisch machen können. Nicht weil Paris ein unattraktives Ziel wäre, aber warum hat er nicht nach Paris wollen und ein großer Arzt, ein Schriftsteller oder wenigstens reich werden? Es liegt eine gewisse Genügsamkeit in nichts anderem als einem geografischen Ziel. Denn, durch keinen Inhalt gefüllt, kann Paris auf die Dauer doch zu Wuppertal werden und hat nicht einmal eine Schwebebahn aufzuweisen.

Ricardo, der bei der Unesco in Paris seine Übersetzerprüfung ablegt, hätte nun, mit dem fremden, dem Latino-Blick die Chance, uns ein Paris zu zeigen, dass seinen Sehnsüchten gerecht würde, aber Vargas Llosas Protagonist trifft erneut das böse Mädchen und so bleibt Paris eine Bühne, auf der, neben dem Mädchen nur Karikaturen des lateinamerikanischen Milieus in der Stadt auftreten. Ihr Umfeld ist geprägt von Revolution und Konterrevolution in ihren Heimatländern, ihre Wünsche nach gesellschaftlicher Veränderung sind dem Autor rückblickend eher verächtlich.

So kann es nicht ausbleiben, dass unser böses Mädchen, mit neuer Identität einer Guerrilliera versehen, Ricardos Weg kreuzt, um ihn abermals zu verlassen: Nach Kuba, versteht sich. Der arme Ricardo! So wird es ihm im Verlauf des Buches noch mehrfach ergehen: Er darf ein wenig mit dem Mädchen schlafen, dann verlässt sie ihn wieder, um an der Seite eines wichtigeren, reicheren Mannes die nächste soziale Stufe zu erklimmen. Wie es Ricardos Ziel war nach Paris zu kommen, so ist es ihr Ziel reich zu werden. Diesem Mangel an Lebensfarben versucht Vardas Llosa in seinem Roman abzuhelfen, indem er die Kulissen und die gesellschaftlichen Moden wechselt. Wir dürfen das von Hippies geprägte London besuchen, der Autor erzählt von der "psychedelischen Revolution", ähnlich distanziert, wie er einen frühen Aids-Fall abhandelt.

Nicht, dass eine Obsession so wie sie Ricardo dem bösen Mädchen entgegenbringt keine Spannung in sich bergen könnte, doch dieses immer wieder gleiche, sich auf die Sexualität reduzierende, Begegnen-Verlassen- Begegnen-Verlassen wirkt, zumal durch die mühsamen Zufälligkeiten der Begegnungen, recht konstruiert. Einmal gelingt es dem Buch, sich zur Dichte der ersten Seiten aufzuschwingen, als der Protagonist auf einen scheinbar stummen Jungen trifft, der, durch das Mädchen inspiriert, die Sprache wiederfindet. Doch so wie der Junge verschwindet, verschwindet auch das Leben wieder aus dem Roman.

Wer sich gern an frühere Bücher des Autors erinnert, zum Beispiel an "Der Krieg am Ende der Welt", an einen Stoff, der "Das Urbedürfnis der Armen nach Menschwerdung in einer humanen Gesellschaft" verarbeitete, der erlebt mit dem neuesten Roman des peruanischen Schriftstellers, einer routinierten und müden Abfolge von Geschehnissen, eine Enttäuschung. Sie ist der Abwesenheit sozialer Wirklichkeit geschuldet, jener Essenz, die auch die fadeste Liebesgeschichte zu einem Ausbruch von Leidenschaft werden lassen könnte.

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