Einmal, als Daniel Kehlmann einer Literaturzeitung ein Interview gewährte, fiel ihm zur Rolle der Literaturkritik ein: Das ist wie mit den Zahnärzten. Man fragt sich manchmal, warum es Leute gibt, die freiwillig diesen Job ausüben." Nun ist der Schriftsteller selbst unter die Bohrer gegangen, die Kieferschinder und Leutequäler. Eine Reihe seiner Rezensionen aus verschiedenen Zeiten und Zeitungen, ergänzt mit Reden und Vorlesungen, sonst wäre das schmale Bändchen noch dünner geworden, ist unter dem Titel "Lob" erschienen. Warum macht der Autor von "Die Vermessung der Welt" so was? Geld kann der Grund nicht sein.
Was für den gewöhnlichen Literaturkritiker gilt, das gilt auch dem Kehlmann: Er hat eine Meinung und teilt sie gern anderen Menschen mit. Es ist keine Quälerei "Lob" zu lesen. Fraglos ist es ein wenig langweilig. Nur Lob, kein Verriss, nur Wohlwollen, kaum Auseinandersetzung, das muss auf fast 200 Seiten erst einmal durchgehalten werden. Und da es Kehlmanns Meinung, Kehlmanns Geschmack ist, lobt er sich natürlich beiläufig auch selbst. Aber da das alles in des Autors erlesene Sprache gekleidet ist - er gilt als der Dreiteiler unter den jüngeren deutschen Schriftstellern und seine Textur ist vom Feinsten - liest man sich so durch.
Nur einmal, in einer Betrachtung über den Reporter Truman Capote, rutscht die Sprache des viel gerühmten Literaten ins Gewöhnliche: Da entgleitet ihm das Wort "Herausforderung". Diese Stanze ist das Unwort der letzten zwanzig oder dreissig Jahre. Jeder Pförtner stellt sich inzwischen der Herausforderung, seinen Dienst anzutreten. Bürgermeister, die ein Schwimmbad einweihen, reden von der Herausforderung, die der Bau ihnen abverlangt habe, und Manager stellen ihre neuen Patentschrauben den Käufern als neue Herausforderung auf dem Patentschrauben-Sektor vor. Nun also auch Kehlmann, der die Nachahmer Capotes an der Herausforderung scheitern lässt, am Rand zu stehen und "zugleich viel und gar nichts von sich" preiszugeben. Hier unterscheidet sich Kehlmann vom gewöhnlichen Zahnarzt: Er bohrt nicht, er pinselt.
Mit Knut Hamsun, Heinrich von Kleist und Thomas Mann hat Kehlmann in der vorliegenden Arbeit drei der Großen, der Älteren für sich geprüft und gelobt. Er befindet, dass Hamsuns "Hunger" "untauglich zum Sozialdrama" sei und erkennt darin "die epochale Entdeckung dieses Romanciers: Motive sind verzichtbar." Werk und Person sind sicher nicht eins. Aber die Meinung Kehlmanns über die Motive, die Hamsun zu einem devoten Nachruf auf Adolf Hitler gebracht hat, hätte der Rezension Leben einhauchen können. In der Mann-Rezension findet sich viel Kehlmann, ein wenig Susan Sontag und kaum Mann. Zum unerhörten Drang nach Gerechtigkeit in Kleists "Michael Kohlhaas" fällt Kehlmann ein, "dass es in der Welt der Lebenden notgedrungen Wichtigeres gibt als Gerechtigkeit." Dem könnte Guido Westerwelle zustimmend ergänzen, dass es sich beim Wichtigsten nur um die Eigenverantwortung handeln kann. Und die nächste Herausforderung natürlich.
Aus den vielen Beiträgen in "Lob" ragen zwei heraus: Die über Roberto Bolaño und über Imre Kertész. Mit Bolaño entdeckt Kehlmann für sich einen Autor, der seine Stoffe nicht zuletzt aus dem Leid der chilenischen Diktatur, vor der er fliehen musste, schöpfte: "Der 11. September schwebt über uns wie der vorletzte chilenische Kondor. . . Manchmal habe ich das Gefühl, dass der 11. September uns dressieren will." schreibt er im Exil und meint nicht 9/11, den September der Twin-Towers, sondern den Tag, an dem Pinochet die Chilenen für lange Jahre in seine Foltergefangenschaft führen sollte. In der Geburtstagsrede zum Achtzigsten von Imre Kertés bemerkt Kehlmann, dass der "Schriftsteller . . . ein Ereignis der europäischen Kulturgeschichte ist". Und noch während er weiß, dass man, über Kertéz redend, nicht um das Wort Auschwitz herumkommt, denunziert er "Erinnerungs- oder Trauerarbeit" als "Kitsch". Gerade wenn man denkt, jetzt bohrt er tief und gründlich, der Kehlmann, wird der Zahnkern verfehlt, schrammt er nur den Schmelz.
Mit Sicherheit habe ich dem Autor hie und da Unrecht getan. Wie sollte das beim Tun vermieden werden? Deshalb sei dringend lobend vermerkt, dass Kehlmann sein Preis-Geld aus dem "Welt-Literaturpreis" der Organisation "Ärzte ohne Grenzen" gestiftet hat.