Und dann sagte Honecker den wunderbaren Satz, daß er sich den Sozialismus doch auch anders vorgestellt hätte, und auf diese bemerkenswerte Weise näherten sie sich beide der Schlußfolgerung, daß es wohl besser wäre, für beide Seiten, Thomas (Brasch) würde in den Westen gehen.
Florian Havemann, HAVEMANN
Vergangenheitsbewältigung ist belastend. Man besichtigt die glänzenden Götter von einst und es sind bloß versteinerte Götzen. Die veralteten Rituale, die Aufmärsche und Kampflieder erscheinen dem späten Betrachter lächerlich. Auch die einst hochgeschätzte Kunst des larmoyanten Protestgesangs ist ganz aus der Mode gekommen. Deutschlands Rapper meckern cooler.
Alle paar Jahre fällt mir ein ehrliches Buch in die Hand, liebe LeserInnen aus dem Beitrittsgebiet, das Erinnerungen weckt an das Große Experiment, schöne und schlimme, an Miterlebtes und Erlittenes. Gern empfehle ich solch ein Buch als Fibel für diejenigen unter unsern LeserInnen, die das Große Experiment nur von Ferne beäugen durften, weil sie ausgesperrt waren in den vergoldeten Westen. Und ich bewerbe es als Aufklärungs-E-Book für die Jugend auf der Fan-Meile der RATIONALGALERIE, die das Große Experiment in Schwarzweiß aus dem History-Kanal kennt.
Seit einiger Zeit werden Familienerinnerungen an Systemkritiker der verflossenen DDR vorzugsweise als Roman deklariert, um den gerichtlichen Verfügungen eines HeldInnenklüngels um den Liedermacker vorzubeugen, der seine verstaubten Lorbeeren partout unzerknickt in die Geschichtsbücher retten will. Neuerdings werden sogar die Berichte vom Leiden der Funktionäre an ihren Kindern anonymisiert. Aus Solidarität werde auch ich unsere Kummer gewohnten LeserInnen mit durchsichtigen Umschreibungen narren.
Im vergangenen Jahr hatte sich Eugen Ruge zu Wort gemeldet mit dem famosen Roman „In Zeiten abnehmenden Lichts“, einer Familiensaga von Emigranten, die aus Mexiko und dem sowjetischen Gulag in die DDR kamen. Nun hat Marion Brasch in einen autobiografischen Roman verpackt die fragmentarische Geschichte ihrer jüdischen Exilantenfamilie vorgelegt, die von der britischen Insel heimkehrte. Diese Rückkehrer galten damals im Osten als die besseren Deutschen, nicht weil sie Juden waren, sondern Antifaschisten! Zugleich waren sie die schlechtern Kommunisten, weil sie die Emigration ohne Gefahr für Leib und Leben im kapitalistischen Ausland überdauert hatten. Der große Bruder besetzte die hohen Posten im neuen Arbeiter- und Bauernstaat anfangs mit Gefolgsleuten, die in der Sowjetunion nach Stalins Auslese mithilfe des NKWD übrig geblieben waren. Man glaubte sich ihres unbedingten Gehorsams sicher, erzeugt durch Dressur und Furcht.
Vater Brasch beginnt seine Karriere 1946 in der SBZ als Berufsfunktionär, im Volksmund auch abfällig Apparatschik oder Bonze genannt. Er ist einer, den die Partei überall einsetzen kann und der normalerweise den Apparat aufzublähen hat, wobei er nach den Regeln von Parkinsons Gesetz handelt. Heute übernehmen diese Jobs Manager, die der Wirtschaftlichkeit frönen, indem sie Konzerne verschlanken und Leute entlassen.
Die vier Kinder der Familie Brasch sind andauernd auf der Flucht. Erst ist es die Flucht vor den Eltern, dann die Flucht vor sich selbst, bei den Söhnen getarnt als Flucht in den Alkohol. Denn die drei Brüder leiden an einem Selbstzerstörungsmechanismus. Das Leben in der DDR bekommt ihnen nicht.
Zwei werden Schriftsteller. Einer der beiden, Thomas Brasch, wird auch berühmt und dekoriert, nachdem er in den Westen wechselt. Der dritte Brasch geht unter die Schauspieler. Die kleine Marion ist der Realo unter den Geschwistern – sie trinkt nicht mehr, als sie verträgt.
Das Nesthäkchen ist nicht nur auf der Flucht vor Vater und Stiefmutter, sondern auch vor ihren Brüdern. Die Marion gibt Gummi, gefühlsecht beschichtet mit dem herben Charme der DDR.
Die familiären Grabenkämpfe und das Beziehungsgestrüpp machen Abschnitt 1 – 6 des Buchs leicht verständlich auch für diejenigen LeserInnen, die im besserverdienenden Teil Deutschlands aufgewachsen sind. Die Generation Ost, die heute um die Fünfzig ist, wird sich mehr erwärmen für die Abschnitte 7 – 12. In dem präzisen Bericht von den Hürden des Alltags und den Mühen des Erwachsen- und Selbständigwerdens mögen sich manche LeserInnen selbst erkennen, was die einstigen Sorgen und Wünsche, Reinfälle und Höhepunkte betrifft.
Ein leidiges Thema, sehr instruktiv vorgetragen, sind die Privilegien. Die Kinder der Führungsriege wurden nicht nur besser versorgt, sondern auch besser behandelt. Ein Beispiel soll genügen.
Wenn die sozialistische Justiz Bonzenkindern wegen politischer Vergehen drei Jahre Knast aufbrummte, wurden sie nach drei Monaten entlassen. Man zeigte ihnen nur die Instrumente, wie weiland Genossen Galilei. Sie kämpften sozusagen im privilegierten Widerstand. Deshalb ist ihnen der persönliche Mut nicht abzusprechen, denn ein wenig von den Säuberungsmethoden im Vaterland der Arbeiter wird die Elterngeneration doch wohl angedeutet haben.
Viel härter von der Staatsmacht behandelt wurden die namenlosen Kritiker. Sie saßen ihre Haftstrafe großteils ab, bevor man sie in den Westen verkaufte.
Renitente Funktionärskinder mögen manche Karriere gebremst haben. Vielleicht ist so der eine oder andere Parteisoldat vor einem Mauergerichtsprozess bewahrt worden, weil er wegen der Missetaten seines Sohns nicht ins Politbüro aufsteigen konnte.
Ein Hauptproblem der DDR schimmert in Marions Erlebnisbericht an allen Ecken und Enden durch. Jene, für die der Staat gedacht war, die Arbeiter nämlich, mochten ihn mehrheitlich nicht. Der kämpferische Falsettgesang des Liedermackers war ihnen schnuppe, sie hörten lieber Schlager. Und sie wussten instinktiv: Auf Malle am Ballermann ist’s viel schöner als am Balaton mit Bier, Mann.
Ein weiteres Kümmernis der Obrigkeit war der allgegenwärtige Mangel. Wegen des fehlenden Konsumangebots wurde im Osten andauernd genörgelt. Wenn man zum Frühstück in der Kantine in der Schlage stand, konnte es gut sein, dass man gefragt wurde: Heute schon gemeckert? DDR – das war Der Dumme Rest.
Kritik und Besserwisserei gelten immer noch als die einzigen Psychopharmaka gegen Politikverdrossenheit. Aber die Pharmaindustrie arbeitet mit Hochdruck an schwarz-gelben und rot-grünen Pillen.
Was soll’s? Das Große Experiment ist längst Geschichte.
Realisierte Utopien sind per se zum Scheitern verdammt. Das hat vor über 100 Jahren der britische Philosoph George Edward Moore erkannt, der in den „Principia Ethica“ über Utopien schreibt: „die sogenannten Güter, die sie berücksichtigen, sind überwiegend Dinge, die bestenfalls bloße Mittel zum Guten sind – Dinge wie etwa Freiheit, ohne die möglicherweise nichts sehr Gutes in dieser Welt existieren kann, die aber an sich ohne Wert sind und von denen nicht einmal sicher ist, dass sie irgend etwas Wertvolles hervorbringen.“ [111 (2)]
Ach ja, und wie liest sich der Roman nun so? Er geht runter wie Öl. Die erzählerische Begabung liegt in der Familie.