Die goldglänzenden Zwiebeltürme der Moskauer Erlöser-Kathedrale spiegeln sich kopfüber in einer Regenpfütze, bis ein hindurch fahrendes Auto das Bild auslöscht. Schon die allererste Kameraeinstellung von Christoph Boekels zweistündigem Dokumentarfilm „Liebesgeschichten aus Moskau 1993 - 2003“ spricht Bände: Vorbei der Glanz, weggewischt von trüben Wassern. Wenig später ein Schwenk über einen gewaltigen, endlos erscheinenden Bauzaun, darauf in großen Lettern die Reklame einer deutschen Automarke. Er verbirgt, was hier gebaut wird, aber auch was hier einst stand: das „Rossija“, seinerzeit das größte Hotel Europas, 2006 abgerissen, damit eine andere Nutzung dieses Filetgrundstücks neben dem Kreml bessere Rendite bringt. Statt am Straßenrand aufgereihter Bäuerinnen, die das wenige feilboten, was Garten und Stall hergaben, sehen wir nun ausladende Einkaufszentren mit Leuchtreklame, statt mit ungelenker Hand geschriebener Preisschilder aus Pappkarton moderne Etiketten mit Strichcode. Bilder vom Damals und Heute, Bilder vom Verschwinden.
Auch wenn es in dieser Schilderung so klingen mag: Boekels Blick auf die Veränderungen in Moskau ist nicht gefärbt von der chic gewordenen, aber doch nur beiläufigen Nostalgie des „früher war alles besser“. Gewiss, auch in seinem Kommentar ist Bedauern zu hören über Verlorenes, aber – und das ist es, was seinen Film so erfreulich untauglich macht für jede Art nostalgischen Feuilletons – sein Bedauern ist beglaubigt durch ganz persönlichen Verlust, von dem dann auch gleich die Rede ist. Im „Rossija“ nämlich begann Boekels Beziehung zu Marina Jewgenjewna, seiner späteren Frau, die 1991 im Alter von nur 37 Jahren starb; der Erinnerung an sie ist hat Boekel diesen Film gewidmet, und die Treffen mit Freunden und Verwandten der beiden nach Marinas Tod hatten auch schon den Hintergrund für einen früheren Film mit dem Titel „Moskau – Alle meine Lieben“ (1994) geliefert, der auf ähnliche Weise sehr Privates mit dem recht dramatischen politischen Geschehen im Moskau jener Tage verzahnt.
Den filmtechnischen Wandel seither vom Standard- zum Breitbild nutzt Boekel elegant, um früher aufgenommenes von neuem Material abzusetzen. Dadurch, aber auch durch den Wandel von Kleidung und Umgebung sind die Zeitsprünge in seiner Montage jederzeit nachvollziehbar, ohne ihren Reiz einzubüßen. So beschränkt sich der Kommentar auf das, was die Bilder nicht zeigen können: die Erklärung der Verwandtschafts- und Freundschaftsverhältnisse im Kreis der Gefilmten, in denen sich der politische und gesellschaftliche Wandel im Land spiegelt. Marinas Sohn Dimitrij, im ersten Film noch früh verheirateter Medizinstudent mit Machoallüren, ist längst von der selbstbewussten Lena geschieden, die auch ihrem nächsten Partner trotz eines gemeinsamen Sohnes wegen seiner Affären den Laufpass gab. Eine große Datscha, die so manche fröhliche Runde gesehen hat, erscheint wie verfallen zwischen den neuen, von hohen Zäunen und Überwachungskameras bewachten Anwesen, deren neue Besitzer ihr „Kaufangebot“ auch schon mal mit Waffen unterstrichen hatten. Und der immer gut gelaunte Musikprofessor Georgi Iwanowitsch, der sich erst auf Boekels Drängen seine Erinnerungen an die Stalinzeit entlocken lässt, gibt bei der Wahl seine Stimme nun dem Rechtsaußen Schirinowski, um mit diesem „Clown und Parasiten“ Opposition in ein Parlament zu bringen, von dem er längst nichts Gutes mehr erwartet.
Gewiss, bei allen Karriere- und Lebensbrüchen in Boekels Film bleiben die Probleme die einer gehobenen Mittelschicht von Medizinern, Musikern und Literaturprofessoren, die auch jetzt nicht von karger Rente in beengten „Kommunalkas“ wohnen müssen und deren große Tafel stets reichlich gedeckt ist. Doch den Anspruch auf eine repräsentative Darstellung der Moskauer Bevölkerung hat Boekel schon durch seine Filmtitel ausgeschlossen. Der Reiz seiner beiden Filme liegt gerade darin, dass er seinen Protagonisten besonders nahe ist und ihnen zugleich mehr durch Zuhören als durch „aus dem Westen“ mitgebrachte Erklärungsmuster Einblicke in eine durchaus privilegierte Gesellschaftsschicht entlockt. Eine Schicht freilich, die politisch wach genug ist zu wissen, dass im „neuen“ Russland die Freiheit vor allem als Freiheit zum Konsum und Geschäftemachen gesehen wird. Liebesgeschichten aus dem großen kulturellen Reichtum des Landes, wie sie Boekel erzählt, passen nicht in diese neue Businesswelt, und auch über seiner unverkennbaren Liebe zur Stadt an der Moskwa, der sein Film Ausdruck gibt, schwebt ein Hauch von Vergänglichkeit. Wenn sein Kameramann Anatoli Rudakow in einer ausgedehnten Kamerafahrt die nächtliche Glitzerwelt der Prachtstraße Twerskaja abfährt, spürt man weder Staunen noch Bewunderung, eher schon die Sorge, die zittrig irrlichternden Leuchtreklamen könnten die Symptome einer mit Macht ausbrechenden Krankheit sein. („Liebesgeschichten…“ fand seit seiner Fertigstellung 2010 keinen deutschen Verleih. Die Fernsehsender WDR und MDR strahlen ihn nun am 6.10., 23.15 Uhr bzw. am 9.10., 23.40 Uhr endlich aus.)