Die Leute, die nur zu ihrer Unterhaltung lesen, halte ich für viel vernünftiger als jene, die ihre Nase nur dazu in Bücher stecken, um darin Fehler zu finden.
Hamilton, Memoiren des Grafen v. Gramont /1/
Selbstredend habe ich bei allem, was in Tagebuch-Form auftritt, meine relativen Lieblinge. / Angefangen beim „König“ SAMUEL PEPYS-: „1 seidenen Frack gekauft, der mich viel Geld kostet; anschließend zu Gott gebetet, dass er mich instand setzen möge, ihn abzubezahlen.“
Arno Schmidt, Das Tagebuch und der moderne Autor /2/
Einer schreibt 10 Jahre Tagebuch, von 1990 – 1999, über die Wiedervereinigung. Tag für Tag ist ehrlich verbucht. Er kommt aus dem Regime, aber er ist noch jung und vermag sich den neuen Gegebenheiten anzupassen. Er geht zum Empfang bei Kohl, das darf er, denn er arbeitet für Merkel, und beschreibt exakt, wie schlecht Hannelore aussieht. Er notiert gewissenhaft (aber sicherheitshalber in russisch), wann er mit einer Sekretärin fremdgeht, wo und wie. Er vermerkt jedes Bakschisch, alle Sporteln und Provisionen, die ihm zufließen, während er in der Hierarchie aufsteigt. Und er lobt immer wieder die Klassiker, denen er das Verständnis der Lage verdankt. Er notiert die Meinung des Volkes und die abweichende der Regierung. Währenddessen nimmt der Reichtum Einzelner zu und steigen große Volksmassen herab zu ständiger Arbeitslosigkeit, die sich später zu einem Almosen namens Hartz IV verfestigen wird. Das Land führt wieder auswärtige Kriege, fern den eigenen Grenzen. Er dokumentiert es penibel.
Jetzt ist das Tagebuch in neun Bänden erschienen. „So etwas gibt es?“, rufen unsere LeserInnen begeistert aus. „Das hat sich einer getraut? Hat der Krebs oder … keine Ahnung?“
Sorry, liebe LeserInnen, die Sache liegt anders, denn ich habe ein wenig geflunkert. Das einzigartige Tagebuch des Samuel Pepys (sprich sæmjuel pi:ps), von dem ich schreibe, handelt die Jahre 1660 – 1669 ab, und nicht Berlin, sondern London ist der Schauplatz, damals bereits eine Weltstadt. Es beginnt mit der Inthronisation von Charles II. Der Vetter des Tagebuchschreibers, Edward Montagu, einst begeisterter Mitstreiter Cromwells, später erster Lord Sandwich, holt den zukünftigen britischen König aus Holland heim. Sein Geheimsekretär Samuel Pepys begleitet ihn bei dieser Staatsaktion. Wir müssen noch ein wenig Geduld haben, aber dann werden wir beide aufsteigen. Bis dahin werde ich Euch, so gut ich kann, einträgliche Aufträge verschaffen, spricht Montagu zu Pepys am 2. Juni 1660. Das nennt man Vetternwirtschaft.
Im Januar 1660 macht der Schreiber im Schatzamt Pepys Kassensturz und ist 40 Pfund wert. Im Dezember 1666 besitzt der Erste Sekretär des Flottenamts Mr. Samuel Pepys bereits 6200 Pfund und darf sich Esquire titulieren. Die Herausgeber setzen im Beiheft ein Pfund Sterling an Kaufkraft gleich mit 100 britischen Pfund des Jahres 2010. Aber solche Vergleiche sind immer etwas problematisch. Während anno dazumal menschliche Arbeitskraft spottbillig war, kostete elegante Garderobe eine Stange Geld. In Relation zum Protz des Barock sind die Plünnen von Armani nur Pillepalle.
Richtig reich wird Pepys im zweiten englisch-holländischen Seekrieg – ein Kriegsgewinnler auf Provisionsbasis. An jeder Lieferung für die Flotte verdient er mit und dankt Gott. Die Lachhaftigkeit wird dem Tagebuchschreiber nicht bewusst.
Die Restauration unter Charles II. soll den Geist der Cromwellrepublik vergessen machen. Mitglieder des Rumpfparlaments werden hingerichtet, die seinerzeit für den Tod Charles I. gestimmt hatten. Sie sterben erhobenen Hauptes. Im Parlament und vor Gerichten wird um die Restitution von Kirchenland und Krongütern gefeilscht. Pepys, der in jungen Jahren strammer Puritaner war und der Hinrichtung Charles I. beiwohnte, schwebt in realer Angst, wegen einer markigen Jugendäußerung belangt zu werden. Es ist das typische Rollback einer Revolution.
Als Tagebuchleser werden wir Zeuge des Kampfes des britischen Königreichs um die Herrschaft über die Meere, getrieben nicht von der Ruhmsucht eines Einzelnen, sondern befeuert von der religiös verbrämten Geldgier einer Seehandel treibenden Oligarchie. Zwar ist das damalige britische Parlament nicht mit heutigen Volksvertretungen vergleichbar, denn die Masse der Besitzlosen ist nicht stimmberechtigt, aber die schwierigste Aufgabe jeder gesetzgebenden Versammlung, die der Steuererhebung, wird gewissenhaft erledigt.
Es sind gefährliche Zeiten. London wird 1665 von der Pest heimgesucht, die 70.000 Einwohner hinrafft. 1666 brennt die City vollständig ab. Und das Vereinigte Königreich verliert den zweiten englisch-holländischen Krieg gegen die Generalstaaten. Zunehmend macht sich in den Tagebuchnotizen Kritik breit. Dem Schreiber drängt sich der unerfreuliche Vergleich mit der militärisch glanzvollen Cromwellära auf.
Für die FeministInnen unter unseren LeserInnen sind die Tagebücher eine eher traurige Lektüre. Häufig beklagt Pepys, der mit einer bildhübschen Französin verheiratet ist, die Sittenverderbnis bei Hofe, besonders die Hurerei des Königs. Die intime Geschichte des verlotterten Hofes Charles II. können unsere LeserInnen übrigens sehr vergnüglich studieren in Hamiltons eleganten Memoiren des Grafen von Gramont, die von der Zeit des Tagebuchs handeln. /3/ Bezeichnenderweise werden der Berufsspieler Gramont und der Grandseigneur Saint-Evremond vom sittenstrengen Pepys nicht erwähnt.
Allerdings ist vor Samuel Pepys, Erstem Sekretär des Marineamts, keine fesche Dienstmagd sicher, sei es in der Kneipe oder bei Bekannten. Mit Vorliebe befummelt unser Westentaschenwüstling die jungen Frauen der Untergebenen, welche die Gatten ihm mit Bedacht zuführen, um Posten oder Gunstbeweise zu erschleichen, für die sie sonst kräftig abdrücken müssten.
Erstaunlich modern mutet uns das Ringen um religiöse Gewissensfreiheit an. Damals wirkten die Häupter der Aufklärung in England und Holland. Erst im Rokoko wird Frankreich die Aufklärung dominieren. Thomas Hobbes, der Wegbereiter für Spinoza, Pufendorf und Thomasius, veröffentlicht seine epochalen Werke, die Pepys kauft und liest.
König Charles II. ist heimlicher Katholik, aber er wird sich zeitlebens nicht outen. Papisten und Presbyterianer, Puritaner und Quäker kämpfen im Königreich um ihre Daseinsberechtigung. Nach 350 Jahren dürfen sich erstmals 1655 in London unter dem Einfluss der Puritaner wieder Juden ansiedeln. Das Wort „Hexe“ taucht in den Tagebüchern nicht auf. Auf dem Kontinent lodern noch lang die Scheiterhaufen.
Immer wieder begegnet uns der typisch britische Zug zum Praktischen. So besucht Pepys das königliche Schloss in Whitehall und besichtigt die Toilettenanlage. Ludwig XIV., der in seinem Leben nur vier Mal gebadet haben soll, lässt zeitgleich das monumentale Schloss von Versailles ohne sanitäre Einrichtungen erbauen, so dass die Höflinge gezwungen sind, sich in den Ecken zu entleeren.
Pepys ist mathematisch-naturwissenschaftlich sehr interessiert. Unter anderem konstruiert er einen Messstab für Schiffsbauholz, denn er will zwar bestochen sein, aber nicht betrogen werden. Er erwirbt astronomische und terrestrische Fernrohre, Rechenstäbe, ein Mikroskop und den Storchenschnabel, eine frühe Kopiervorrichtung. Als Mitglied der Royal Society wohnt er der Bluttransfusion an Tieren bei, während der Hof von französischem Esprit träumt. Er studiert die Bücher Robert Boyles, des Begründers der modernen Chemie.
Und Pepys ist ungemein kunstbeflissen. Er singt leidenschaftlich gern in Gesellschaft, dilettiert in der Kompositionslehre, spielt mehrere Instrumente, geht häufig ins Theater und regelmäßig in die Kirche, wo er öfters sein Schläfchen hält, wenn die Predigt schwach ist. Er liest die Bestseller seiner Zeit und verleibt sie seiner Bibliothek ein, die er später testamentarisch dem Magdalene College in Cambridge stiften wird, wo sie bis heute in einem eigenen Raum steht. Unter den 3.000 Bänden werden auch seine in Kurzschrift geschriebenen Tagebücher bis zu ihrer Wiederentdeckung überdauern.
Dieser wahrhaft universale Geist stirbt siebzigjährig im Jahre 1703, als guter Freund Sir Isaac Newtons, als vormaliger Präsident der Royal Society und Ehrenbürger der City of London.
Die Übersetzung fußt auf der ersten vollständigen englischen Ausgabe von 1970-76. Der Apparat ist gewöhnungsbedürftig. Die erotischen Notizen des Autors, die er in einem Mischmasch aus romanischen Sprachen verbirgt, werden nicht übersetzt, sondern es ist dem Companion (Beiheft) ein Wörterbuch seiner Lingua franca beigegeben, aus dem sich der Interessierte den Sinn mühsam zusammenstoppeln muss. Anscheinend wurde aus Bequemlichkeit die postviktorianische Prüderie der englischen Originalausgabe der siebziger Jahre fortgeführt. Die Übersetzung der Anzüglichkeiten gehört in die Fußnoten.
Schwerer wiegt, dass der Übersetzung ein Personengesamtregister ermangelt. Jedem einzelnen der neun Bände ist völlig überflüssig dasselbe Personenverzeichnis, das nur die wichtigsten Akteure aufführt (ohne Seitenverweise!) und die immer gleiche Karte Londons angehängt, die zudem in Band VI auch noch verdruckt ist. Der Companion enthält zwar einige vortreffliche Essays, aber auch nur ein kurz gefasstes biografisches Personenverzeichnis ohne Seitenverweise. Man hätte auf den Registerband der englischen Ausgabe zurückgreifen können.
Bei der Vielzahl der Übersetzer (6) tat sorgsame Lektorierung not. Leider ist die deutsche Ausgabe nicht gänzlich frei von orthografischen Fehlern (auffällig besonders Band IV und VIII).
Die 4.432 Seiten Tagebuch des Samuel Pepys sind dennoch nicht nur ein höchst unterhaltsamer und informativer Lesegenuss, sondern auch richtungweisendes Zeitdokument für die Anfänge moderner Demokratie. Aktuell hilft uns die Lektüre, die Begeisterung der baden-württembergischen Großkopfeten für den Schienenverkehr richtig zu werten. /4/ Ob wohl eines schönen Tages Heiner Geißlers geheime Aufzeichnungen unseren Enkeln offen legen werden, welche Unsummen an finanziellen Gleitmitteln im Zusammenhang mit Stuttgart 21 geflossen sind?
Anmerkungen
/1/ Die Memoiren des Grafen von Gramont aufgezeichnet von L. Hamilton Ü.: Paul Friedrich, Wilhelm Borngräber Verlag Neues Leben, Berlin W, o. J., S. 21
/2/ zit. nach Pepys, Tagebücher, Bd. VI, Klappentext
/3/ Mémoires de la Vie Du comte de Gramont, contenant particulièrement L’histoire amoureuse de la Cour d’Angleterre sous le Regne de Charles II. (1713)
Ü.: Der Chevalier von Gramont. Hamiltons Memoiren und die Geschichte. Hg. Karl Federn, 2 Bände, Georg Müller, München 1911 (mit historischem Apparat)
/4/ Allein für den unterirdischen Bahnhof wird schon jetzt das Vierfache von dem veranschlagt, was das gegenwärtig höchste Gebäude der Welt gekostet hat. Und das Burdsch Chalifa verschlang immerhin eine Milliarde Dollar.