Die Berlinale wirft ihre Filme voraus: Um den Journalisten zu ermöglichen, die Fülle der Filme des Festivals zu sehen, zeigen die Sektionen einige Arbeiten vorab. Darüber berichtet die RATIONALGALERIE in loser Folge.

Fast scheint es ein heiteres Lager zu sein, jenes von Choisel in der Nähe von Nantes, in dem die deutschen Besatzungstruppen 1941 französische Geiseln gefangen halten. Volker Schlöndorffs Film "La mer à l´aube" beginnt mit einem Wettrennen in diesem Lager voller politischer Gefangener. Volksfrontler, Kommunisten und Gewerkschafter sind hier von den Nazis weggesperrt worden und sie gelten der Hitlerei, seit einem Attentat des französischen Widerstandes, als Geiseln, zum Erschießen verfügbar, falls die Résistance erneut zuschlagen sollte. Als seien sie noch freie Menschen, so freuen sich die Gefangenen am Sport, man feuert an, einer der jungen Läufer rennt an den Zaun, der die Männer von den Frauen trennt, schwärmt sein Mädchen an und läuft dann weiter zu einem umjubelten Zieleinlauf.

Auch das ist es, was Schlöndorffs Film so klug und berührend macht, die scheinbare Normalität, mit der er beginnt, der Mangel an Pathos in den ersten Minuten. Dabei kann und wird es nicht bleiben, denn der französische Widerstand erschiesst den nächsten Soldaten und die Nazis wollen Vergeltung: 150 Geiseln sollen umgebracht werden, die Rache soll weiteren Attentaten vorbeugen. Statt dessen wurde diese Geisel-Erschiesssung das Startzeichen für den verstärkten Kampf der Résistance. Auf drei Ebenen entwickelt der Regisseur und Autor des Films eine Geschichte, die auf Tatsachen beruht: Er zeigt das Lager aus der Sicht der Gefangenen, das selbe Lager aus der Sicht der Wachmannschaften und die deutsche Kommandantur, in der auch der Autor und Oberst der Wehrmacht, Ernst Jünger, seine Rolle spielt.

Geführt wird das Lager von Vichy-Leuten, von Vertretern jenes Marionetten-Regimes, das den unbesetzten Teil Frankreichs regiert. Mit feinem Pinsel malt Schlöndorff die Vertreter Vichys, die sich für die besseren, weil antikommunistischen Franzosen halten und doch im Innern wissen, dass sie nichts weiter sind als Kollaborateure. Der Regisseur schildert ihre Zweifel, ihr Schwanken und lässt sie dadurch nicht zur Karikatur verkommen. "Ein Soldat der alten Schule", sagt Ernst Jünger, über den Marschall Philippe Petain, den Staatschef des Vichy-Regimes. Ulrich Matthes gibt mit seiner Interpretation des Ernst Jünger jene Herrenschreiberfigur, die aus einer hohen Warte, als spräche er jeden Satz vom Pferd herab, schwer erträgliche Kommentare von sich gibt. Jüngers alte Schule war der erste Weltkrieg, eine Schule, die leider bis zum Ende des zweiten nicht geschlossen wurde.

Bis die Gefangenen über ihre baldige Erschiessung informiert werden, konzentriert sich Schlöndorff auf warmherzige Portraits der Todeskandidaten, allesamt Kommunisten, was in der aktuellen deutschen Mehrheitssicht auf wenig Verständnis treffen dürfte: Freundliche, intelligente und sympathische Kommunisten passen eigentlich nicht auf eine deutsche Leinwand. Im Zentrum der wahren Geschichte steht Guy Môque (Léo Paul Salmann), dessen Abschiedsbrief an seine Eltern die Taschentücher in Bewegung setzt: "Ich bin siebzehneinhalb! Mein Leben war kurz. Ich bereue nichts, außer Euch alle zu verlassen." Jetzt entwickelt der Film jenes Pathos, dessen Leidenschaft dem einfachen Heldentum des Widerstehens entspringt und daran erinnert, dass der aufrechte Gang allemal die bessere Bewegungsform ist als der hohe Trab.