"Die verschissenen Türken", sagt der Wiener Türke verzweifelt in KUMA (Zweitfrau), dem Film des österreichischen Filmemachers Umut Dag, der das Programm der Berlinale-Sektion PANORAMA eröffnete. Die Berlinale mit ihren fast 400 Filmen segmentiert seit Jahren ihr Programm, um dessen Fülle zu bewältigen. Und während der Wettbewerb, die heilige Kuh des Festivals, mit einem läppischen Textil-Film eröffnet wurde (siehe weiter unten), tischte das PANORAMA-Programm gleich zu Beginn schwere Kost auf, kein Film zum Liebhaben, eher zum Nachdenken.

Die Mutter einer in Wien lebenden türkischen Großfamilie (Nihal Koldas) droht zu sterben, der Krebs frisst an ihr. Mehr noch als über ihren baldigen Tod sorgt sie sich um die Familie: Wer soll den Mann und Vater (Vedat Erincin) versorgen, wer die Kinder, die noch im Haus sind? Also hat die Matriarchin beschlossen, dass eine Zweitfrau her muss, eine die sie noch zu Lebzeiten aussucht. Denn, so sind die türkischen Übermütter deren bäuerlichen Traditionen älter sind als die Städte, sie herrschen, notfalls über den Tod hinaus.

Weil aber Zweitfrauen sowohl in der Türkei als auch in Österreich verboten sind, muss einer der Söhne die neue Frau für den Vater heiraten. Die Neue, eine Schönheit vom Land (Begüm Akkaya) weiß was man von ihr erwartet und fügt sich. Und während sie dem Mann, der jetzt auch der ihre sein soll, mit kindlichem Respekt begegnet, nähert sich die einsame junge Frau der kranken Matriarchin, pflegt und umsorgt sie. Der Rest der Familie wendet sich gegen die Zweite, die sich anschickt den Platz der despotischen aber auch verehrten Mutter einzunehmen.

Ob man das Thema mag oder nicht: Was Umut Dag bietet, ist Film vom Feinsten. Wie die Sippe im hämischen Wiener Dialekt die Neue, die noch keine Deutsch kann, mit der Sprache aussperrt, als ob sie denn in ihr geboren wäre, wie der Vater zögert die junge Schönheit in Besitz zu nehmen, wo er doch die Alte liebt, wie die alte Kultur auf die neue trifft, dieses komplexe Drama ist mit klugen Bildern spannend erzählt. Vor allem, weil kaum eine der Figuren im Verlauf des Films das bleibt was sie zu Beginn war.

Als dann der Vater plötzlich stirbt und die Mutter ihren Krebs überlebt, wird aus dem was der Westen noch als sozialen Ansatz einer archaischen Kultur begreifen könnte, ein Gefängnis für die Zweitfrau. Als sie versucht auszubrechen eskaliert eine familiäre Situation zu einer öffentlichen Schande in der türkischen Umgebung, die das Wort von den "verschissenen Türken" freisetzt, ein Wort der Hilflosigkeit, ein Wort des Übergangs von der einen Kultur in die andere.

Rund 200.000 Zweitfrauen soll es in der Türkei geben, wie viele außerhalb der Türkei leben ist unbekannt. Dass sich einer des Themas annimmt, dass er nicht wertet sondern schildert, beschert der Berlinale einen denkwürdigen Film und der Gesellschaft einen Diskussionsansatz über den Moment eines Festivals hinaus. - Als die jüngste der Schwestern, früh im Film, gefragt wird wann sie denn heiraten wolle, findet sie eine knappe Antwort für den Wandel aus der Tradition in die Moderne: "Eher fress´ ich Glas."


BERLINALE-ZWISCHENSCHNITT
Prima Stoff zur Stoff-Verfilmung
Brokat, Atlas, Samt, Damast, Seide und immer wieder Spitzen: Geschlagene 100 Minuten ein Faltenwurf nach dem anderen. Ja, es ist der Juli 1789 in Frankreich, und ja, irgendein Volk wird die Bastille stürmen und sie werden diesen oder jenen Aristokraten an die Laternen hängen, aber für diese Nebensächlichkeiten hat "Farewell my Queen" einfach keine Zeit. Gilt es doch Roben und Garderobe, Kostüme und edle Stoffe zu präsentieren. Eine Handlung hätte der Eröffnungsfilm der Berlinale auch, sagt man? Na, gut: Dienstmädchen (Léa Seydoux) vergafft sich in Marie Antoinette (Diane Kruger), von Beruf Königin, die aber hatte was mit der Yolande Martine Gabrielle von Polastron, Gräfin und spätere Herzogin von Polignac. Und weil der Pöbel bald kommt, möchte die Königin ihre Gabrielle in Sicherheit wissen. Deshalb muss die Dienerin die Kleider der Polignac (ein entzückendes Saphir-Grün, dunkelgrüne Paspeln, hie und da ein paar Perlen) anziehen, mit deren Kutsche fahren und überhaupt.

Der Regisseur, Benoit Jacquot, hätte lieber das Leben der Rose Bertin, Marie Antoinettes Modistin, verfilmen sollen. Nicht nur, dass Rose eine früh emanzipierte Frau war, sie hatte auch einen Laden an der Rue Saint Honoré "Au Grand Mogul", bei ihr wären viel, viel mehr Stoffe zu finden gewesen. Aber vielleicht bei der nächsten Berlinale, als Abschlussfilm.