Wäre es doch mal untergegangen, das Abendland, oder wenigsten die Neue Welt, damals, als im Jahr 2008 die Finanzkrise knöchern an die Tür des Kapitalismus pochte. Aber nix da, es hat sich noch mal erholt, vom großen Fracksausen der Wall Street. Und weil es weiter und immer weiter zu gehen scheint, zocken sie natürlich wieder. - In "Margin Call" von J. C. Chandor (Buch und Regie) geht es um jene paar Stunden in einer Investment-Bank, die dem Bankrott vorausgehen. Die Ausstattung ist vom Feinsten: Ein Büro-Turm in Manhattan, ganz oben die Banker, Anzüge von tausend Dollar aufwärts, die Krawatten handbemalt, die Frisuren schwanken zwischen Gel und Föhn, aber alle sind sie bei Vidal Sassoon geschnitzt. Es geschieht nichts Ungewöhnliches zu Beginn des Films: Wie im richtigen Leben gibt es mal wieder eine Entlassungswelle in der Bank.
Weiße Umzugs-Kartons wandern in den Händen der Entlassenen durch die Flure, kleine Särge der begrabenen Hoffnungen auf Karriere und die Rückzahlung der Hypotheken für das schicke neue Haus. Tut mir leid, tut mir leid murmelt der Chor der Kollegen, tief drinnen jubelt es: Mich hat es nicht erwischt. Diesmal hatten die Controller das Risiko-Mangement aufs Korn genommen, jene Abteilung, in der die wunderbaren neuen Wertpapiere auf Qualität untersucht werden: Wie schnell wird es platzen, das neue Papier? Da die Dinger immer schneller auf dem Markt kommen, kann sie auch keiner mehr gründlich prüfen, warum also soll unnützes Personal die Gewinn-Marge belasten? Eric Dale (Stanley Tucci), ein Sub-Chef der Risiko-Prüfer, muss auch gehen, aber er hinterlässt den Beginn einer Analyse vom Ende: ZAHLUNGSUNFÄHIGKEIT steht in großen Lettern an der Wand.
Das drohende Ende der Welt wie die Banker sie kennen - permanent wird immer mehr verdient, die Blöden im Land kaufen auch das faulste Papier, die Politik klatscht Beifall - scheint nahe. Doch vor dem Untergang wird noch applaudiert: Wenn Sam Rogers (Kevin Spacey) - nicht so ganz oben in der Bank, aber im höchsten Drittel angesiedelt - die Jungs anfeuert, trotz aller Widrigkeiten tapfer weiter zu machen. Es ist jener Sam, der sich gerade noch mehr um seinen kranken Hund sorgte als um Eric Dale, der leider, leider das Haus verlassen musste: Kein Zugang mehr zum Rechner, das Handy ist abgeschaltet, für einen Banker ist das so etwas wie die Todesstrafe. Aber seine Analyse ist noch virulent und mobilisiert die erste Etage der Bank zum Endkampf. Die Jungs unten, an der Verkaufs-Front, verdienen immerhin zwischen 250.000 und 2,5 Millionen Dollar im Jahr, und wenn sie reden, reden sie Geld: Der eine hat in zwölf Monaten 50.000 Dollar für Huren ausgegeben, der ganz oben, ist fast eine komplette Milliarde wer. Da sabbert der kleine Bänker vor Gier.
Der da oben (von Jeremy Irons eher gelebt als gespielt) weiß was man machen muss: Einen Manager aus der Nähe der Bankmacht für die Medien und die Politik symbolisch opfern (es trifft Demi Moore als Quotenfrau), die Löcher stopfen und dann den Ausverkauf der faulen Papiere organisieren: Alles muss raus, notfalls für 65 Cent für den Dollar oder weniger. Beim Stopfen der Löcher treffen wir Eric Dale wieder: Damit er nichts ausplaudert, wird ihm eine hübsche Summe geboten. Ins Nachdenken geraten, erinnert er sich an seine Zeit als Ingenieur: Da hat er mal eine Brücke gebaut, die war richtig nützlich für die Anwohner, aber natürlich hat er nie im Leben so viel verdient wie bei der Bank, auch wenn er dort nur heiße Luft verkauft hat. Das soll wohl das Gleichnis vom alten, guten Kapitalismus sein, wo doch der neue so hässlich ist. Als wäre der alte mit seinen imperialen Kriegen eine permanent wertschöpfende Schönheit gewesen! Auch Kevin Spacey, den treuen Banksoldaten, treffen wir gegen Ende des Films wieder: Er begräbt seinen alten, toten Hund.
Was Chandor präsentiert ist ein Lehrstück, trocken und auf den Punkt der unendlichen Gier nach Profit gebracht. Das Stück ist dicht erzählt und auf das Wesentliche komprimiert. Es ist ein seltenes Stück Spielfilm, dessen Spannung aus der Wirklichkeit kommt. Natürlich ist die Erzählung subjektiv, aus der Sicht der handelnden Bänker gedreht, sonst hätte sie nicht die Fahrt, den Saft, alles, was ein Film braucht. Aber zugleich verführt sie auch, an das ausschließlich Subjektive in den Menschen zu glauben: Für Geld machen die alles. Dass es ein System ist, dem wir dieses Rattenrennen verdanken, macht der Regisseur nicht sichtbar. Und dass die Lösung, die Auflösung, methodisch unter "Ä" wie Ägypten abgelegt ist, kann er nicht wissen. Aber das wäre, zugegeben, von einem Film doch zu viel verlangt.
ZWISCHENSCHNITT
Auch ein Film über den Festival-Chef, Dieter Kosslick war zu sehen: Zur Eröffnung der Berlinale gab es einen Zusammenschnitt einiger seiner Auftritte. Das sollte lustig sein, aber die Moderatorin, Anke Engelke, erklärte die Pointen nicht. So hat es dann keiner gemerkt. - Deutlich merkbar war, dass Ulrich Köhler mit seinem Film "Schlafkrankheit" zwei schlechte Filme in einem abgeliefert hat: Einmal eine holpernde Familien-Story und einen Film über unerklärtes Scheitern, mühsam zusammengehalten durch eine afrikanische Kulisse. - Das große Thema der Verfolgten zur Zeit der argentinischen Diktatur wurde im Film "El Premio" kleingedreht: Wunderbare Landschaftsbilder, aber bis die eigentliche Story kam, war die erste Stunde rum. - Man konnte schon Angst um die diesjährige Berlinale bekommen, aber da gab es ja noch "Almanya", den Film zur Integration.
BERLINALE: SARRAZIN TOTLACHEN
Das nationale Klosett ist unteilbar
Darf man das? Zu einem ernsten, schwierigen Thema wie das der Integration eine Komödie abliefern? Wenn man kann, schon. Die Samdereli-Schwestern (Yasemin und Nesrin) können es. Sie lassen den Enkel einer türkischen Großfamilie, Cenk (Rafael Koussouris), den Großvater (Vedat Erincin) nach der Geschichte seiner Einwanderung fragen. Denn den kleinen Cenk quält die Generalfrage vieler Türken der dritten Generation: Bin ich nun Türke, Deutscher oder was? Und während die Einwanderung in immer neuen Rückblenden erzählt wird, entrollen die Schwestern (Buch und Regie) die Szenen einer Reise der Familie "nach Hause", in die Türkei, in der niemand mehr dauerhaft leben will. Aber Opa hat dort, sagt er, ein Haus gekauft. Also ab nach Anatolien. Am besten mit Sarrazin, auf dem Kino-Sitz festgeschnallt.
Es ist der fremde Blick der Einwanderer auf das unglaubliche Deutschland der Fünfziger Jahre, der den Film beseelt: Ein Klo, auf dem man sitzen soll, wo anderer Leute Hintern sich auch schon rumgedrückt haben? Ekelhaft, unhygienisch! Fettes Schweinefleisch? Widerlich. Und dann die schreckliche Religion: Sie trinken des Sonntags das Blut ihres Gottes und essen sein Fleisch, die Deutschen! Alles Kannibalen! Und doch, überall kannst du Cola kaufen, so viel wie du willtst und Opa steuert auf seiner ersten Heimreise einen Mercedes nach Anatolien, da können die Nachbarn mal gucken. Es ist der wunderbar verkehrte Blick, der die damals noch junge Oma zum zweiten Mal mit Ekel und Schrecken auf ein Klo blicken lässt, auf eben der ersten Heimreise in die Türkei. Denn jetzt hat sie sich an das städtische, das deutsche Sitz-Klo gewöhnt und findet das dörfliche, türkische Hock-Klo einfach hinterwäldlerisch.
"Klüng-Plüme-Klünge-Plümme-Ling, Plüm-Klüngeling" lautmalert der deutsche Text von "Kling-Glöckchen-Klingelingeling", wenn die türkischen Kinder ihren Eltern ein echt deutsches Weihnachtsfest abgerungen haben: Geschenke wollen sie schließlich auch. Dieses erfundene, lautmalerische Deutsch ist es, das dem Zwerchfell die schlimmsten Attacken versetzt - und die Bilder dazu: Als Oma (Demet Gül), jung und hübsch, dem deutschen Kaufmann ihren Wunsch nach Brot gestisch erklären will und der in dieser komischen Plüm-Klüngeling-Sprache antwortet. Glücklich kehrt sie mit Milch zurück: Süt heißt das auf gut Türkisch und bei Edeka in Neukölln können sie es immer noch nicht, außer sie haben einen der jungen Türken aus der dritten Generation eingestellt. Doch schon die zweite, erzählt der Film, weil sie deutsche Schulen besucht hatte, diente den Eltern als Dolmetscher. So muss die Tochter der Mutter den ärztlichen Befund übersetzen: Sie bekommt ein Baby, das vierte Kind. Jetzt darf Sarrazin aus dem Kino raus, damit er sich nicht zu sehr ängstigt. Alle anderen dürfen lachen. So herzhaft wie Fatma, die sich einfach über das kommende Kind freut.
Manchmal stolpern die witzigen Dialoge über die großartigen, zuweilen dramatischen Bilder, die der Kameramann Ngo the Chau dem Film schenkt. Weil das ernsthafte Bild auch gut ohne den Text klar käme. Aber ob der Einfall, die Tür von Opas Haus in der Türkei scheinbar ins Nichts öffnen zu lassen vom Kameramann oder den Samdereli-Schwestern stammt, ist egal: Die Tür der Fassade ohne Haus dahinter öffnet sich nicht nur zum Blick auf eine der großartigen anatolischen Landschaften, sondern auch auf die große, fröhliche Familie an einem reich gedeckten Tisch, an dem wir alle auch gerne säßen und lachen würden bis wir krumm sind und der Sarrazynismus sein wohl verdientes Ende gefunden hat.