Das Licht der Utopie, der sozialistischen Verheißung, habe abgenommen, titelt Eugen Ruge in seinem eindringlichen, brillant verfassten Familien-Roman "In Zeiten des abnehmenden Lichts". Doch folgt man seinem Buch, dann gab es dieses Licht nie. Wie es dann doch noch weiter hat abnehmen können bleibt ein Rätsel.
Charlotte und Wilhelm, brave Parteisoldaten der KPD, sind vor den Nazis geflohen und, mit einem Umweg über die Sowjetunion, im mexikanischen Exil gelandet. Inmitten bürokratischer Partei-Riten wartet Wilhelm nur auf eins: Die Heimkehr nach Deutschland, nach dem Ende des Krieges, natürlich in die beginnende DDR, dort, so hofft er, ist ihm ein Posten sicher. Denn Wilhelms Morgenröte scheint warm auf ein Leben in Versorgung. Charlotte, nicht ganz so begierig auf die Heimreise, hat ein kleines Auge auf einen anderen Mann geworfen, aber Ihre wirkliche Verheißung kommt als Angebot aus dem Osten Deutschlands: Sie kann Direktorin eines Institutes für Literatur werden. Als der Mann, mit dem sie ein wenig äugelte, warnt: "Der Kommunismus, Charlotte, ist wie der Glaube der alten Azteken: Er frisst Blut", flieht sie aus der Versuchung und dem Exil in die neue Heimat.
Im selben mexikanischen Exil, in dem Charlotte und Wilhelm, als Romanfiguren mit realistischen Bezügen auftreten, lebte in jener Zeit auch die Schriftstellerin Anna Seghers. Ihr in Mexiko veröffentlichter Roman "Das siebte Kreuz", erzählt von der Grausamkeit eines deutschen Konzentrationslagers, von Flucht und Tod. Mit dem Blut der Häftlinge im Faschismus und dem der Soldaten im brutalen Krieg der Nazis, ist die Gründungsurkunde der DDR geschrieben. Denn ohne Faschismus und Krieg hätte es die DDR nie gegeben. Der Wilhelm, den Ruge durch seinen Roman stolpern lässt, war allerdings nie in Gefahr. Erst geniesst er den Schutz der Sowjetunion, dann ist er durch seinen Status als verfolgter Antifaschist abgesichert. So kann er, als Karikatur des SED-Funktionärs, seine Umgebung mit dröhnenden Reden und einer unerträglichen Jovialität langweilen. Er wird nie fallen können, ihm fehlt die Höhe.
Zwei Söhne hatten Charlotte und Wilhelm. Die ließen sie, auf der Flucht aus Nazi-Deutschland, in der Sowjetunion. Als der Bruder Kurt in einem Brief an den Bruder Werner Zweifel am Hitler-Stalin-Pakt äußert, verschwinden beide in einem sowjetischen Lager, wie viele in dieser Zeit, auch und gerade Kommunisten. Kurt wird überleben, wird eine russische Frau heiraten, einen Sohn zeugen und sich als Historiker in der DDR einrichten. Von allen wesentlichen Figuren, die der Autor dem Leser anbietet, ist es einzig Irina, die russisch Frau von Kurt, der man nahe sein möchte. In einem bezaubernd unideologischen Kapitel über eine Weihnachts-Familienfeier aus der Sicht der lebensklugen, warmherzigen Irina, zieht Ruge alle Register seines literarischen Vermögens: Charmant, witzig, nachdenklich und boshaft zeichnet der Schriftsteller den ungeteilten deutschen Weihnachtsterror. Für einen Moment vergisst er den sich selbst gegeben Auftrag, das Leben im realen Sozialismus als ausschließlich hassenswert darzustellen.
Ruge ist ein großartiger Formulierer, aber ein kleinlicher Hasser. Als auf einer der gespenstischen Geburtstagsfeiern von Wilhelm, auf denen man viel Blech verteilt und redet, das Lied von der Partei, die immer recht habe, angestimmt wird, lässt er seine Figur Kurt darüber nachdenken ob das diskreditierte und verbrauchte Loblied von Louis Fürnberg oder Johannes R. Becher sei: Es reicht ihm nicht, den jüdischen Kommunisten Fürnberg, der den Nazis mal so grade von der Schippe gesprungen war, mit dem eigenen Lied zu kontaminieren. Der Autor muss den ehemaligen Kulturminister der DDR, Becher, von dem das Lied nicht stammt, schnell noch in die kommunistische Sippenhaft nehmen. Auch als Ruge Irina rätseln lässt, warum sie denn so verblendet gewesen sei, als Sanitäterin der Roten Armee für "die Heimat sterben zu wollen", blendet der geflissentlich aus, dass ihre Alternative gewesen wäre als russischer Untermensch in einem Nazi-Lager zu verrecken.
Mit Sascha, dem Sohn von Kurt und Irina, der die DDR vor ihrem Ende verlassen wird, begegnet dem Leser die dritte Generation des Roten Adels, jener Schicht in der DDR (zu der auch der Autor gehörte), die durch den antifaschistischen Widerstand der ersten Genration bis ins dritte Glied privilegiert war. Sascha wird das politisch und privat haltlose Leben seines Vaters decouvrieren, mit ihm soll das Licht der Utopie endgültig verlöschen, wenn es denn je geglommen haben sollte. Saschas Reise an den Ort des mexikanischen Exils der Großeltern, seine Suche nach sich selbst, nach einem Endpunkt, wird in jenem Nichts landen, in dem der Roman begonnen hat. Das alles ist außergewöhnlich gut komponiert, aufregend erzählt und mit einer Sprache versehen, die den Bildern Gerüche hinzufügt. Beinahe hätte Eugen Ruge einen großen Roman geschrieben, wäre er denn weniger kleinlich gewesen.