Traurigkeit liegt wie ein schöner Schleier über der jüngsten Arbeit von Fatih Akin. "Auf der anderen Seite" heißt der Film und es sind viele anderen Seiten, die aufeinander treffen: Die türkische auf die deutsche, die politische auf die unpolitische und die anderen Seiten, die Generationen trennen. Am Rande einer Demonstration in Deutschland - Transparente der PKK, der einstmals linken Partei der Kurden, rücken ins Bild - entdeckt die Kamera auf dem Bürgersteig den fröhlichen alten Türken mit der Schirmmütze: Ali Aksu (Tuncel Kurtiz) ist auf dem Weg eine Nutte zu suchen und zu finden. Als er erfährt, dass auch sie Türkin ist, schämt er sich ein wenig, der Mann bumst ungern Frauen der eigenen Nation.
Alis Sohn Nejat (Baki Davrak) ist ein Muster der Integration: Der Germanistik-Professor redet und handelt akzentfrei, kein türkischer Männlichkeitswahn hindert ihn zu Spülen. Sein Vater, der nach dem frühen Tod der Mutter allein für ihn gesorgt hat, weiß warum: Er hat ihn "erzogen wie ein Mädchen." Nejats Feinfühligkeit macht es ihm möglich, die neue Frau des Vaters zu akzeptieren. Es ist eben jene Nutte, großartig gespielt von Nursel Köse, die sein Vater aus dem Gewerbe ausgekauft hat. Langsam beginnt Fatih Akin das Netz seiner Geschichte zu spinnen, Bilder vom Fahren geben dem Film einen eigenen Sog, deutsche Orte, die man zu kennen glaubt, gewinnen neue Sichten und ein paralleler Strang der Handlung führt, scheinbar beziehungslos, in die Türkei.
Fern der schönen türkischen Strände und der pittoresken Altstädte eröffnet auch in Istanbul eine politische Demonstration die Szenerie. Drohend stehen dunkle Polizisten gegen den Horizont der Demonstranten. Anders als in Deutschland, wo der Marsch der Transparente eher einem Ausflug gleicht, ist in der Türkei Gewalt und Gegengewalt auf die Straße geschrieben: Ein Polizist in Zivil wird entdeckt, zieht seine Pistole und wird zu Boden getrampelt. Der gewaltsame Tod ist gegenwärtig in der Türkei, sagt der Film, und der Firnis der Zivilgesellschaft ist dünn. Ein Mädchen läuft mit der Pistole fort und hat mit ihrer Flucht die Sympathie des Zuschauers. Genau das will der Regisseur und obwohl er nicht auffällig Partei ergreift, nutzt er das Mädchen als Metapher für Widerstand und Aufbegehren. Ihre Flucht wird sie nach Deutschland führen, zu einer eigenen Geschichte über die Eliminierung kultureller Grenzen durch Solidarität und Liebe. Das Mädchen Ayten (Nurgül Yesilcay), so will es der feine Faden der Story, ist die Tochter der Hure. Was gewollt wirken könnte, gestaltet Akin gekonnt. Es sind seine Parallelwelten, die sich immer wieder berühren und doch einander fremd bleiben, die den Blick bannen.
Auch in Deutschland gibt der Tod dem Film eine jähe Wende: Nejat, unversehens zum Sohn eines Mörders geworden, macht sich auf die Suche nach dem Mädchen Ayten, deren Mutter von seinem Vater erschlagen wurde. Es ist sowohl die kluge Regie, eine fühlende Kamera, als auch eine ebenso beherrschte Schauspielerei, die keinen der vielen Zufälle als plump erscheinen lässt, eher nimmt man ihnen eine gewisse Notwendigkeit ab, eine Zwangsläufigkeit wie sie großen Dramen zu eigen ist. Während Nejat noch nach der Widerstandskämpferin Ayten sucht und sich selbst dabei verliert, gewinnt die in der blonden, deutschen Studentin Lotte eine entschiedene und leidenschaftliche Freundin. Wenn es ironische Absicht war, die sehr deutsch gezeichnete Lotte mit der aus Polen stammenden Patrycia Ziolkowska zu besetzen, dann ist dem Regisseur ein intelligenter Witz zur Einwanderungsdebatte in der Bundesrepublik gelungen. Auch ohne diese Absicht schenkt uns die Ziolkowska ihr strahlendes Lächeln, ihre sprühende Energie und eines der schöneren deutschen Gemüter.
Mit einer undankbaren Rolle, die sie klaglos meistert, wurde Hanna Schygulla bedacht: Sie gibt die Mutter von Lotte, eine Sechzigerin die früher eine Achtundsechzigerin war und heute ihr penibel restauriertes Fachwerkhaus so sorgsam hütet wie ihre Tochter. Wie Akin, dem wir das Drehbuch verdanken und der dafür zu recht in Cannes ausgezeichnet wurde, all diese Zwischentöne konzertiert, das verlangt Respekt. Offensichtlich kann der Besitz zweier Kulturen die Sinne schärfen. Dieses Schärfen leistet auch der Film, wenn man sich auf ihn einlässt. Immerhin verlangt er ein Wissen über die schroffe Auseinandersetzung der Kurden und der Türken. Und er verlangt noch mehr: Die Bereitschaft zu differenzieren. Als Ayten, mit deren Kampf man zu gerne vorbehaltlos sympathisieren würde, in den Augen ihrer Gefährten zur Verräterin wird, soll der Zuschauer die komplizierte Brechung der Heldin begreifen, um bei ihr zu bleiben. Angesichts der Tatsache, dass die gleichen Kurden, die in der Türkei um ihre Emanzipation kämpfen, sich im Irak in einer fragwürdigen Koalition mit den USA befinden, ist dieses Begreifen nicht unmöglich, aber fraglos schwierig. Wenn dies gelingt, dann hat das auch mit der scheinbaren Leichtigkeit zu tun, mit der Nurgül Yesilcay (Ayten) von der Rolle der verbissenen Kämpferin zur Liebenden und Leidenden wechselt.
Nur langsam heben sich die Schleier des Films. Ein Hoffen schimmert auf: Es scheint möglich, sich auf der anderen Seite zu treffen. Fatih Akin hat einen grandiosen Film über Deutsche und Türken gemacht. Und einen über Liebe und Tod. Und den über Fremdheit und Nähe. Er hat einen Film gemacht, der den Verstand fordert und die Seele berührt. Der startet am 27.09. 07 in den Kinos (Nur in Hamburg schon am 20.09.07).