Ich sehe, wie die Charaktermissgeburten sich auf allen Ebenen von Politik und Wirtschaft immer breiter machen, und ich kann nicht dazu schweigen, bis heute nicht.
Arnim Mueller-Stahl im Gespräch

„Die Jahre werden schneller“ ist der Titel eines wunderhübschen Buches, edel fadengeheftet, voller sorgsam gesetzter Lyrik und bunter Drucke auf blütenweißem Papier, wie gemacht zur Weihnachtsbescherung. Eine CD mit vier Liedern liegt auch noch bei. Das Buch transportiert die Empfindungen und Bekenntnisse eines ehrlichen Menschen (nennen wir ihn M.-S.), verdichtet zu Gedichten, Gesang und Bildern.

Viele Schauspieler sind Multitalente mit kleinen Schwächen. Der Tänzer und Kitharöde Nero zum Beispiel räumte im Römischen Reich die MTV-Awards und alle Nobelpreise ab, doch das Malen war ihm nicht gegeben, von den Menschenrechten ganz zu schweigen. Fred Astaire spielte und tanzte wunderbar, aber Ginger Rodgers trennte sich von ihm wegen der Singerei. Ronald Reagan war ein exzellent geschminkter Präsident und noch besserer Cowboy. Hätte er bloß jodeln können!

M.-S. dagegen ist nicht nur begnadeter Mime und unermüdlicher Maler, Liedermacher und Geigenvirtuose, sondern auch ein Meister des herrlich holprigen Verses. Er dichtet nach eigenem Zeugnis in der Nachfolge Heinrich Heines, und muss folglich seinen Unmut über den Lauf der Welt in Reime schmieden. Das gelingt mal mehr, mal weniger.
Wovon mag der Epigrammatiker M.-S. geträumt haben, als er 1975 schrieb:

ZU VIEL VOM GLÜCK O JEMINE
Bringt oftmals nichts als Käse
Es hat ein jeder im Gesicht
Zum Fallen eine Näse

Oftmals ist gehobene Prosa anspruchsloser Lyrik vorzuziehen. Anders gesagt, außer Heine gibt’s noch Brecht. Nicht alles Ungereimte wird gereimt, mitunter ist es auch geradebrecht.

DIE BESTEN POLITIKER SIND
Durch verpasste Gelegenheiten
Nicht gezeugt worden
Wir haben es
Mit denen zu tun
Die durch Betrug
Verrat und Pannen
Das Licht der Welt erblickten
Danach sieht die Welt aus…
(1968)

Schlechte Epigramme werden durch Zerhacken nicht zu guten Gedichten. (Gerhard Keller)
Immerhin ist erstaunlich, dass der in der DDR gereifte Künstler noch Ende der sechziger Jahre glaubte, schlechte Politiker würden gezeugt. Aber sind wir heute so viel besser dran mit unserer Gewissheit, dass man sie wählt?

Nach der Wende hat M.-S. seine Stasiakte gelesen. Das ist ihm nicht bekommen, wie manch anderem auch. Die alten Griechen hatten den Mythos von König Midas, die neuen Bundesbürger den von Erich Mielke. Beide Male handelte es sich in der Hauptsache um die Archivierung von Klatsch, denn auch die Akten bestehen zum größten Teil aus übler Nachrede. M.-S. findet in Mielkes Hinterlassenschaft trübes Material für seine Texte. Im Interview gesteht er, dass er bei hübschen Frauen sehr populär war. Nun entdeckt er in seinen Unterlagen, dass ihn viele Männer nicht mochten. Dazu muss man keine Akten lesen.

Die prächtigen Illustrationen von der Hand des Autors passen zu unserer Zeit wie die Faust aufs Auge, ein Gemisch aus Zeichnung, Aquarell und Text, entfernt erinnernd an Dubuffets Art brut.
Sie illustrieren die Lyrik, insofern sie den Sinn der Gedichte erschließen. Und M.-S. hat die letzte Lockerheit. Wenn ihm mal eine Karikatur von George Dabbelju Bush daneben geht, weil die Tusche zu einem kolossalen Klecks mit den Umrissen Hermann Görings verläuft, schreibt er auf sein Gepinseltes eben „Irak Krieg“ und jeder weiß Bescheid.
Viele Anspielungen in den Gedichten lassen sich wohl nur dadurch auflösen, dass man die Autobiografie liest.

Schwache Gedichte sind häufig zu lautem Singen sehr geeignet. Das deutsche Liedgut strotzt davon. Auf der beigegebenen CD finden sich melancholische Lieder, von M.-S. vorgetragen mit brüchiger Stimme. Es ist mit Jazz unterlegter Sprechgesang, ganz nett anzuhören.

Am Ende des Bandes steht passend ein Interview mit dem großen Künstler, in dem er sich nicht selber auf die Schulter klopft, wie in Kollegenkreisen üblich, sondern die menschliche Seite raushängen lässt, die ihn uns so sympathisch macht.