Es ist ein bitterer Zufall, dass wenige Tage nach Erscheinen der letzten Arbeit von Tony Judt "Dem Land geht es schlecht", die deutsche Commerzbank 150 Mitarbeiter mit mehr als einer halben Million Euro pro Nase bedenkt. Judts Buch, das sich vehement mit der Privatisierung der Staaten und dem daraus resultierenden Verlust von Gesellschaft beschäftigt, erhält durch die Commerzbank einen aktuellen, zynischen Kommentar: Immerhin handelt es sich um jene Bank, die noch vor kurzem mit 18 Milliarden Euro Staatsgeld gerettet werden musste, die jährlich fällige Zinsen von 1,5 Millionen nicht bedient und nun mit vollen Händen ihren verdienten Spekulanten, Angestellten aus der Investmentsparte, das Geld der Steuerzahler in den Rachen stopft. Als Kuh, sagt uns das Beispiel, mag der Staat geduldet sein, als Besitzer ist er nur lästig.

Wenn Judt sein Buch mit "Dem Land geht es schlecht" überschreibt, dann meint er mit dem "Land" jenen imaginären Westen, Europa und die USA, dem er sich verpflichtet fühlt und wirft ihm gleich im Vorwort vor: "Seit dreissig Jahren verherrlichen wir eigennütziges Gewinnstreben. Wenn unsere Gesellschaft überhaupt ein Ziel hat, dann ist es diese Jagd nach dem Profit." Das beklagt der große alte Sozialdemokrat, der im August letzten Jahres gestorben ist. Judt, der in den USA lebte, die ein denkbar schlechter Ort für jenen klassischen, sich international begreifenden Sozialdemokraten war, verzeichnete akribisch den wachsenden Luxuskonsum, den permanent steigenden Wohlstand und die öffentliche Verwahrlosung, um zu schrillen Beispielen zu gelangen: Die durchschnittliche Lebenserwartung der Amerikaner, eine der reichsten Nationen der Erde, liegt unter der von Bosnien.

Auch für seine englische Heimat weiß der Historiker Judt mit Zahlen zu belegen, wie trügerisch wirtschaftliche Erfolgsbilanzen sein können: Während das britische Nationaleinkommen seit den 70er Jahren stieg und stieg, nahm die Armut im Land drastisch zu. Zugleich wuchs die Bedeutung des "Marktes" in der öffentlichen Debatte: Er erlangte, über die 90er hinaus, den Status eines Fetisch, seine unsichtbare Hand wurde gerühmt und beschworen. Spätestens mit der Finanzkrise stellte sich dann heraus, dass die Hand unsichtbar war, weil es sie nicht gab: "Sie (die Markttheoretiker) wissen nicht alles, und am Enden wird offenbar, dass sie eigentlich gar nichts wissen." Das schreibt Judt auf, um seinen eigenen Heilgen der Ökonomie zu präsentieren: John Maynard Keynes.

Immerhin darf man dem Wirtschaftstheoretiker Keynes zugute halten, dass er dem Staat für die Notfalloperationen, wenn der Markt mal wieder nicht funktionierte, eine zentrale Rolle beimaß: Staatsinterventionismus, um die Nachfrage zu mobilisieren, die Nachfrage wiederum sollte die Produktion ankurbeln, was dann der allgemeinen Wohlfahrt im Sinne der Vollbeschäftigung zugute kommen sollte. Das war lange Zeit Theorie und Praxis der sozialdemokratischen Parteien in Europa und sogar der "New Deal" Roosevelts und der "War on poverty“ Johnsons in den USA wurde von Keynesianischen Überlegungen inspiriert. Den Verlust dieser sozialen Sicht auf das Marktgeschehen in den sozialdemokratischen Parteien Europas, das Schröder-Blair-Papier und den Reform-Neupsrech, thematisiert Judt leider kaum.

Auf dem Weg "zurück-zu-Keynes" leistet sich der durchaus kluge und emphatische Tony Judt zwei sonderbare Schnitzer: Die 68er Bewegung reduziert er auf "Selbstverwirklichung" und "individuelle Empörung", ohne zu erkennen, dass in ihr, neben arabesken Subjektivismen, auch eine starke Strömung des Wunsches nach Freiheit für alle und Solidarität mit allen erkennbar war, wie nicht nur der Kampf gegen ungerechte Kriege bewies sondern auch das temporäre Bündnis der 68er mit den Gewerkschaften. Ein zweiter, laxer Analysefehler findet sich im Satz: "Leider glaubten die Sozialisten (in den 30er Jahren) allzu sehr an die Logik der Geschichte und an menschliche Vernunft, weshalb die Faschisten, die weder an das eine noch das andere glaubten, besonders gute Karten hatten." Wer zu diesem Thema nicht mehr zu bieten hat, wer weder die Interessenlage des Kapitals noch die kulturellen Wurzeln des Faschismus auf den Schlachtfeldern des ersten Weltkriegs erwähnen mag, der hätte es lieber meiden sollen.

So führt dann Judts Buch, nach durchaus interessanten Anmerkungen über die Verwechslung von Wachstum und sozialem Fortschritt und einer langen, klugen Exkursion zur Blödheit der Privatisierung der britischen Eisenbahnen, zum Unwort des Jahres 2010: Alternativlos sei die Sozialdemokratie, "von allen Optionen, die uns zur Verfügung stehen, ist sie die beste", schreibt Judt und meint natürlich nicht die jetzige, europäische Sozialdemokratie, sonder so etwas wie jene in den 60er und den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Fraglos wäre, sehen wir die deutschen Verhältnisse, die SPD Willy Brandts besser als die von Schröder deformierte und von Gabriel kaschierte SPD. Und besser als das erbärmliche Marktgelumpe der schwarz-gelben Koalition wäre sie allemal. Aber ob Keynes die alleinige Antwort auf die Globalisierung ist, steht noch nicht fest. Und vielleicht werden die neuen Alternativen ja gerade im Maghreb versucht. Ganz sicher liegen sie, bei allem Respekt vor den Philosophen, die sie nur beschrieben haben, bei jenen, die versuchen die Welt zu verändern.