Ein selten gut gemachter Film, eine verzaubernde Kamera, eine Filmmusik, die weit trägt, immer wieder Szenen von erlesener Dichte und anrührender Situation. Und die Schauspieler, die erste Reihe der deutschen Schauspielerei: Franka Potenta, verhalten und klug; Moritz Bleibtreu, ein Muster an wandelbarem Können, von verlegen über verstört bis zart; die göttliche Martina Gedeck, ein Gesicht, das alles spiegeln kann, sparsame Bewegungen, spröde Leidenschaft und ein geheimes Einverständnis mit den Zuschauer. - Warum gehe ich trotzdem aus diesem Film, "Elementarteilchen", Regie Oskar Roehler, an die frische Luft und merke: ich brauche sie dringend.

Der Film fußt auf dem gleichnamigen, Ende der 90er Jahre erschienen Buch von Michel Houllebecq, einem Buch, das mehr besprochen als gelesen wurde. Die Geschichte ist, im Film, der sich bis auf den Schluss eng an die Romanvorlage hält, und im Buch die selbe. Zwei Halbbrüder, Michael (Christian Ulmen) und Bruno (Moritz Bleibtreu), wachsen bei den jeweiligen Großeltern auf, weil die leiblichen Eltern keine Zeit für die Kinder haben wollen. Insbesondere die Mutter der beiden (Nina Hoss) hat es mit der freien Liebe und somit wenig Zeit, sich um die Gören zu kümmern.

Wenn Mama mit Brunochen eine Sexkommune der 60er Jahre besucht und das kleine, verpickelten Etwas in die pubertierende Verstörung treibt, weil er das das fröhliche Treiben mit ansehen muss, dann merkt mann die Absicht. Und wenn Mama wenig später den Bruno seinem Halbbruder mit der Bemerkung vorstellt: "Der ist für die Befreiung der RAF-Leute, die man gefangen hält", dann ist man verstimmt ob des platten Klischees. Aber keine Sorge, es kommt noch dicker.

Houellebecq hatte eine 68er Mutti und unter ihr gelitten, Oskar Roehler, der Sohn der Schriftstellerin Gisela Elsner, hat ähnliche Probleme. In seinem Film über seine Mutter, "Die Unberührbare", in der er die Mutter als letztlich unpolitische Salonkommunistin darstellt, lässt er diese kluge, emanzipatorische und konsequente Frau, die er nie richtig kennen gelernt hat, durch die Kulissen stolpern, um sie zu denunzieren. Abrechnung mit "68" ist das Thema von Film und Buch und in beiden Fällen wissen die Autoren nicht, worüber sie schreiben, beziehungsweise filmen.

Bruno giert nach Sex, der Lehrer verfolgt seine Schülerinnen, nicht nur mit Blicken, er besucht Bordelle, zerstört seine Familie und ist, so nebenbei, Rassist. Ganz anders sein Bruder Michael. Der Molekularbiologe führt ein aseptisches, sexfreies Leben, hält seine weltabgewandte, keimfreie Einsamkeit für Philosophie und bastelt an einem geschlechtslosen, klonierten menschlichen Wesen. Den grundverschiedenen Brüdern ist eins gemeinsam: Sie sind schwer gestörte Persönlichkeiten und schuld sind die 68er.

Ich kenne im westlichen Nachkriegsdeutschland keine Generation, die sich mit den hunderten von Kinderläden die sie aufgebaut hat, mit dem kraftraubenden Einsatz für eine neues Erziehungsziel, weg von staatlicher Lieblosigkeit, zärtlicher und intensiver um ihre Kinder gekümmert hat, als die 68er Generation. Ich wüsste auch keine Generation, die, als sie begriff, dass sie, wenn auch ungewollt, auf den Schulter der Nazis stand, verantwortungsbewusster mit der deutschen Vergangenheit umging, als eben diese. Und was nun die freie Liebe anbetrifft: Diese neue Freiheit verdankte man eher der Chemie-Industrie, die nie im Verdacht stand links zu sein, und ihrer Anti-Baby-Pille, als den wenigen, in den notgeilen Medien plakativ beschriebenen, Partnertausch-Wohngemeinschaften.

Die beiden Brüder treffen auf die Lieben ihres Lebens. Bruno lernt in einem Urlaubscamp voller gescheiterter, sexbesessener Emanzen, Christiane kennen: Siehste, sagt hier der Film, dahin führt Emanzipation: Die Ehen gehen in die Brüche und die armen Frauen müssen sich in die Arme irgendwelcher Männer werfen, wenn sie denn nicht einsam verkommen sollen. Michael trifft zufällig seine Jugendliebe Annabelle wieder, genauer die, die ihn in der Jugend liebte, denn er war dazu unfähig. Annabelle, im seltener gewordenen Besitz von Eltern, die ein ganzes Leben miteinander verbracht haben, verführt den hilflosen Michael.

Buch und Film stellen nicht die Frage nach den Vätern, auch wenn der von Bruno, monströs von Uwe Ochsenknecht dargestellt, kurz vorkommt. Die Verantwortung für die Kindererziehung, im Fall der Brüder für die Nichterziehung, liegt ausschließlich bei den Frauen. Fällt Ihnen etwas auf? Da haben sich damals, in offenbar fernen Zeiten, Frauen mehr um Politik gekümmert als ihre Mütter, haben gar demonstriert und Rechte eingeklagt und wer blieb auf der Strecke: die Kinder. Auch wenn man das lange genug behauptet, wird es doch nicht weniger reaktionär oder mehr wahr.

Jetzt nimmt der Film Tempo auf, Bruno und Christiane tun sich zusammen, um gemeinsam Swinger-Clubs zu besuchen (Bei aller Kunst, das nimmt man Frau Gedeck nicht ab). Mitten im Rammeln kippt Christine um, landet im Krankenhaus und ist für den Rest des Lebens gelähmt. Wie Moritz Bleibtreu uns dann das lange Schwanken zwischen Liebe und Eigensucht darstellt, wie Martina Gedeck uns alle Schattierungen von kleiner Hoffnung und großer Verzweiflung erleben lässt, das ist groß.

Auch Michael und Annabelle kommen auf die Zielgerade ihrer Liebe, während Michael in Irland seine Forschung weiter treibt, geht sie mit einem Kind von ihm schwanger, erleidet eine Fehlgeburt und muss sich die Gebärmutter entfernen lassen. Der Biologe eilt an ihr Krankenlager, sieht mit der Kamera auf eine wunderbare deutsche Mittelgebirgslandschaft und die alten, aber treuen Eltern und entscheidet sich fortan ein eheliches Leben zu führen. Warum die schöne Franka Potente dem mit maximal drei Gesichtszügen zum Wechseln ausgestatteten Christian Ulmen folgen will, wird mir auf ewig ein Rätsel bleiben.

Kein Rätsel ist die Herkunft des dummen Hasses, mit dem die 68er Zeit und ihre Ergebnisse verfolgt werden. Zum einen sind da jene, die neidvoll gerne "dabei" gewesen wären, als eine Generation aufbrach, um eine neue Zeit zu gründen. Tut uns leid, diese Erfahrung muss man schon selber machen, retrospektiv mäkeln ist nichts als kraftlos. Zum anderen passen Buch und Film in eine Zeit der Restauration, eine Zeit der Marktkonformität und eines Frauenbildes zwischen Fitnessstudio und Arbeitsamt. Dass soviel Mühe auf die Legendenbildung über "68" verwandt wird, dass der Hass virulent ist, zeigt nichts anderes als die Größe einer vielfältigen Bewegung, die sich nur in einem einig war: Sie wollte es besser machen als ihre Eltern.