Der britische Historiker Timothy Garton Ash macht sich Sorgen: Es könnte, schreibt er in der "Süddeutschen Zeitung", den Chinesen Spaß machen, wenn Europa auseinanderfallen würde, und wirft dann auch gleich den herrschenden europäischen Politikern Führungsschwäche vor. Da sitzt einer an seinem Schreibtisch in Oxford, lenkt an der Welt rum und behauptet: "Nie zuvor war Europa so vereint". Wessen Einheit kann Ash meinen? Die zwischen England und Deutschland, zwischen Ländern in der EU, die nicht einmal die selbe Währung haben? Die Einheit zwischen dem Hartz-Vierer und Josef Ackermann vielleicht, weil beide zufällig im selben Europa wohnen? In einem sechsspaltigen Artikel zur europäischen Lage kommen dem allseits überschätzen Autor nicht ein einziges Mal die Wörter "Finanzkrise" oder "Banken" über die Lippen. Dass sich eine der letzten deutschen Qualitätszeitungen traut, so schwaches Zeugs abzudrucken, wirft ein fahles Licht auf unsere Medienlandschaft.

Statt sich die Interessenlage der Banken anzusehen, die gerade dabei sind Europa zu verzocken, fallen Ash die Völker als potentielle Schuldige ein: "Die Völker Deutschlands, der Niederlande und anderer Herzstaaten Europas verfluchen alle weiteren Schritte zur Integration, welche die Erfinder der Währungsunion für deren Erhalt als nötig erachten." Als es mal eine EU-Verfassung geben sollte, durften genau zwei Völker, die Niederländern und die Franzosen über den Entwurf abstimmen. Alle anderen europäischen Regierungen hielten das Volk für unreif, über sich selbst zu befinden. Franzosen und Holländer lehnten die Verfassung mehrheitlich ab. Danach haben die nationalen Regierungen so lange getrickst, bis sie die ohnehin schwache Verfassung in den noch schwächeren Lissabon-Vertrag wandeln konnten. Der wurde den unmündigen Völkern sicherheitshalber gar nicht mehr zur Debatte vorgelegt.

Jetzt sollen die Merkels und Sarkozys aber mal Führungsstärke zeigen, meint Ash, und einen "heroischen Kampf" führen, um eine "zurückhaltende Öffentlichkeit in den Staaten zu überzeugen." Wenn es doch Einfalt wäre, die man dem Schriftsteller attestieren könnte. Aber es ist die gleiche napoleonische Haltung, die den EU-Chefs lange zu eigen war und mit der sie das Europa-Projekt munter in Richtung Wand gefahren haben: Wir von Oben weisen euch Unten den Weg, und wenn ihr brav seid, dürft ihr uns alle fünf Jahre in Wahlen bestätigen. Längst hat sich für die europäischen Völker herausgestellt, dass nicht ihre Politiker die EU regieren sondern das internationale Bankunwesen die Geschicke Europas bestimmt. Die hohlen, hastigen Führungsgesten der Merkels und Sarkozys malen Schatten an die Wand, sonst nichts. Aber Garton Ash erinnert mahnend an das schwere Schicksal des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, "um, sagen wir 1730", das dann später auseinander brach. Ja, und? Dieses Reich musste an der Ausprägung der Nationen zerschellen, an der Morgendämmerung der Aufklärung und an der beginnenden Industrialisierung, also am Fortschritt. Warum der Historiker zwischen der EU und dem alten Reich Parallelen zieht, bleibt rätselhaft.

Die EU scheint, glaubt man Ash, ihren wesentlichen Zweck darin zu finden, den Chinesen den Spaß zu verderben, sprich mit ihnen zu konkurrieren. Falls das relativ vereinte Europa an sein Ende kommen sollte, liegt der Grund genau in diesem Stammtisch-Machtdenken: Je geeinter wir sind, um so saurer sind die Chinesen. Denen werden wir es mal zeigen! Nächst der globalen Misswirtschaft ist es diese antidemokratische, imperiale Haltung, an denen Europa zerbrechen kann. Und an Historikern und Politikern, deren Horizont von der eigenen Eitelkeit begrenzt wird.