Er kommt aus der Schweiz, der Historiker Raphael Gross, aus dem Land der großen Berge und der kleinen Herzen. Bedächtig ist seine Sprache, der leichte Schweizer Akzent weckt Vertrauen, das dunkle Brillengestell akzentuiert Seriosität. Wer anders als er, der Direktor des Jüdischen Museums Frankfurt, sollte die allfällige Frage nach dem aktuellen Stand des deutschen Antisemitismus beantworten, eine Frage die pünktlich und regelmäßig zu den Kämpfen zwischen Israel und den Palästinensern gestellt wird. Denn immer wieder gibt es Deutsche, die sich mit den Palästinensern solidarisch erklären und Israels Politik kritisieren, da verlangt die deutsche Staatsräson echte Experten, die so überzeugend wie möglich Kritik an Israel als antisemitisch einordnen.

"Aus Friedensdemonstranten werden", so Raphael Gross in einem Interview mit der FAZ, "im deutschen Kontext hassende Antisemiten". Und der Herr Professor belegt das wissenschaftlich damit, dass es auf einer der Demonstrationen die Parole "Kindermörder Israel" gegeben habe. Nun hat die UN-Menschenrechtskommissarin Israel im Gaza-Konflikt scharf kritisiert und von Kriegsverbrechen gesprochen. Und das UN-Kinderhilfswerks Unicef zählt nach zwei Wochen anhaltender Bombardierung von Zielen im Gazastreifen mehr als 120 tote Kinder. Aber da würde der vornehme Schweizer Professor äußerstenfalls die Formulierung `Kinder-Kollateral-Schäden´ zulassen können.

Ein Kapitelchen seiner bedächtigen Antisemitismusforschung widmet der Historiker dem "linken Antisemitismus" und entdeckt dessen Wurzeln zum Beispiel in der verblichenen DDR. Denn die habe "die Verantwortung für den Holocaust" durch "antifaschistische Klischees" ersetzt. Dass die prägenden Politiker der DDR häufig nicht aus dem Klischee sondern aus den realen Konzentrationslagern und den Nazi-Gefängnissen kamen, dass drei ihrer Politbüro-Mitglieder ihre Verwandten an die Judenvernichtungsmaschine der Nazis verloren hatten, das ficht den Wissenschaftler nicht an. Und um die Ausblendung politischer Wirklichkeit zu komplettieren, tropft ihm ein bedeutender Gedanke von der Lippe: Antiamerikanismus und Antisemitismus, da ist er sicher, passen gut zusammen. - Fester kann man ein Brett nicht vor den eigenen Kopf nageln.

Während Raphael Gross so vor sich hin redet, will ihm nicht einfallen, dass neben der deutschen Regierung auch und gerade die USA eine ukrainische Regierung unterstützt, in der Naziaktivisten eine erhebliche Rolle spielen. Deren Chef wurde jüngst noch sorgenvoll von der JÜDISCHEN ALLGEMEINEN als übler Antisemit so zitiert: "Die Ukraine wird von einer russisch-jüdischen Mafia beherrscht." Das kann den Einbahnstraßen-Wissenschaftler nicht erschüttern. Vielleicht deshalb mag er auf die soufflierende Frage der FAZ, was denn der Unterschied zwischen einem "waschechten Antisemiten" und einem "Opponenten der israelischen Regierung" sei, nur mit zionistischem Beton antworten: "Die Fragerei kann dem Wunsch nach einer Legitimation für eigene Ressentiments dienen." Das ist ein spannendes neues Tabu: Wer die Frage nach dem Antisemitismus stellt, ist also selbst ein Antisemit.

Schon einmal, in der Debatte um ein Gedicht von Günter Grass zum denkbaren Israel-Iran-Krieg und dem israelischen Atomwaffenprogramm, sprang der jüdische Dogmatiker Raphael Gross aus dem Anzug des Wissenschaftlers: Das Gedicht sei ein "Hassgesang", um dann nachzuschieben: "Diese direkt aus dem Nationalsozialismus in Deutschland zwischen 1933 -1945 erwachsene `Moral der Volksgemeinschaft´ - ist es, deren Echo wir leider immer und gar nicht so selten hören, wenn wir der Generation von Grass nur genau zuhören." Der Ratzinger-Papst, der DDR-Schriftsteller Günter de Bruyn, der ehemalige deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher, der Kabarettist Dieter Hildebrandt, der SPD-Politiker Erhard Eppler und der Soziologe Niklas Luhmann, alle aus der Grass-Generation und alle mit dem Volksgemeinschafts-Echo kontaminiert? Das meint er ernst, der Herr Professor und hält sich für seriös.

Der schwere Hammer des Antisemitismus wird methodisch geschwungen und mit Vorliebe auf jene Köpfe gehauen, die Israel kritisieren. Wenn dabei auch israelische Köpfe sind, die getroffen werden - wie die Kritiker israelischer Palästinenser-Politik David Grossman, Amos Schocken, Moshe Zimmermann, Shlomo Sand oder Moshe Zuckermann - um so besser. Und so verlassen wir denn die fernen Gipfel des Schweizer Intellekts und begeben uns in die schlammigen Niederungen des von Henryk M. Broder eigenhändig gemanschten jüdischen Antisemitismus: Antisemit ist immer der, der die aktuelle israelische Politik nicht mag.