Da war er wieder, der Walser-Effekt. Der Walser-Effekt ist einer der So-Als-Ob-Effekte: Einer tut was und es wirkt so, als ob er gegen den Strom schwimmen würde. Die Öffentlichkeit ist erstaunt. Der schwimmt aber kräftig, sagt sie. Man, was der sich traut! Und dann zieht die Kamera auf und man begreift, es ist gar kein Strom, es ist der gute alte Dorfteich, in dem Walser seine Runde schwimmt, ein wenig trüb ist das Wasser. Was der Schriftsteller aufgewirbelt hatte, war Entengrütze, die, sieht man nicht genau hin, durch das kräftige Aufrühren den Eindruck von Gischt erweckt. So auch jüngst bei Walsers Rede zum 60-jährigen Bestehen der »Bayerischen Akademie der Schönen Künste«. Eine »Kultur des Nichtmehrrechthabenmüssens» habe der Dichter dort wesentlich propagiert, zitieren ihn die Medien zustimmend und haben seine Rede weder gehört noch gelesen.
Tatsächlich widmet der Dichter zwei Seiten seines Manuskriptes der »Verdachtsberichterstattung«, einer, so meint Walser, zeitgeistigen Erscheinung, die zum Beispiel den armen Herrn von Pierer, nur weil Siemens hie und da bestochen habe, einem schrecklichen »Reinheitseifer« aussetze. Und gleich weiß Walser auch, dass mit einer solchen Berichterstattung Arbeitsplätze gefährdet seien, die ja wohl wichtiger wären »als ein Reinheitsgebot«. So wird die Siemens-Führung, eine Gang, die rationalisiert wo sie nur kann, die jüngst noch unter denkbar dubiosen Umständen ihre Handy-Sparte und deren Mitarbeiter verhökerte, mit einem offenkundig verlogenen Argument exkulpiert. Und alle Welt staunt: Der Walser, sie mal einer an, der setzt sich für die Siemens-Führung ein, wer hätte das gedacht, so ein Kämpfer für Gerechtigkeit! So wird, was sich erst bei genauerem Lesen als simple Nachkarterei entpuppt, mit sensationellem Unsinn garniert, damit die Rede eine Resonanz erfährt, die sie wirklich nicht verdient hat.
In Martin Walsers Rede geht es nicht um Siemens, es geht um Martin Walser. Denn er, der vorgebliche Widerständler gegen den jeweiligen Zeitgeist, sei zumindest schon zwei mal von diesem Ungeist gestraft worden, aber die Geschichte hätte ihm dann doch Recht gegeben. Da wäre als erstes die deutsche Einheit, die hatte Walser schon 1977 angemahnt, erzählt er, und da habe er schon kräftig gegen den Mainstream angeschwommen, jawoll. Und später, breitet er auf immerhin vier von sechzehn Seiten aus, hat er dann sein Novelle »Dorle und Wolf« geschrieben und mit ihr die deutsche Teilung literarisch beklagt, geradezu eingeschlagen habe das Feuilleton deshalb auf ihn. Und weiter: »Mehr recht hat . . . wer das Medium mit der höchsten Quote betreibt« klagt der Autor, als hätte er die Idee deutscher Einheit alleine gegen alle verteidigen müssen. Ach, Walser, ob in den 70er Jahren oder in den 80ern, die höchste Quote hatte der Springer-Verlag, hatten die Bataillone der CDU und ihre Epigonen in den Sendern. Jene also, denen die Einheit tägliche Lieblingsspeise war. Und auch der Spiegel öffnete dem Schriftsteller gerne seine Spalten, als der Erich Honecker zum Rücktritt aufforderte. Walser hatte in der deutschen Frage die Quote, den Zeitgeist immer auf seiner Seite. Über das Ergebnis der deutschen Einheit, die man besser als die zweite, die soziale Teilung begreifen sollte, mag er sich in seiner Rede nicht auslassen. Der Gefahr, inhaltlich zu werden, mochte sich Walser nicht aussetzen.
Um das Heldische am Manne Walser besser zu erkennen, erfährt der Philosoph Sloterdijk in Walsers Rede eine seltsame Beförderung: Er sei »einer der wahrnehmungsfähigsten Intellektuellen.« Diese merkwürdige Auszeichnung erhält Sloterdijk, weil er geschrieben hat, dass Walser mit seiner Rede in der Paulskirche »zu früh Recht hatte«. Wir erinnern uns: Bei einer Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, denunzierte Walser die Erinnerung an Auschwitz, an den millionenfachen Judenmord, als Instrumentalisierung, als »Moralkeule». Zwar gab es eine deutsche Öffentlichkeit, die ihm diese primitive Initiierung eine Schlussstrich-Debatte übel nahm, aber die Lufthoheit über die deutschen Stammtische hatte Walser fraglos errungen: Endlich, so die Mehrheit der Deutschen, sagt mal einer wie es wirklich ist. Doch das Walsersche Selbstbild, bis heute gerne öffentlich ausgestellt, bleibt das des kühnen Einzelkämpfers, der er einmal war, damals, als er sich gegen den Vietnamkrieg aussprach. Das ist lange her.
Wie einer, dem mehrfach der Ehrendoktor verliehen wurde, dem das große Verdienstkreuz am Halse baumelt, der seit den Fünfziger Jahren einen deutschen Literaturpreis nach dem anderen abräumt, wie sich so einer erfolgreich als widerständig darstellen kann, ist nur mit den mangelhaften Fähigkeiten einer Öffentlichkeit erklärbar, die gekränkte Eitelkeit für ein Martyrium hält und billiges Nachkarten für Nachdenken. So wandelt der Schriftsteller eine Haltung, die er einst besaß, in eine Pose um und will uns glauben machen, er sei gegen den Zeitgeist, obwohl er ihn doch nur ausschmückt. Da kann es nicht ausbleiben, dass ihm eine weitere Auszeichnung verliehen wird: Er hat sich als Schmock des Monats Juli redlich verdient gemacht.