Als Professor für Neueste Geschichte stellt sich Andreas Rödder in der "Süddeutschen Zeitung" vor, in deren Ausgabe er den Friedensnobelpreis für Helmut Kohl fordert. Die Profession hört sich hübsch neutral an, ganz anders, als wenn man ihn wahrheitsgemäß als Vorstandsmitglied der "Konrad-Adenauer-Stiftung" vorgestellt hätte. Der flinke Historiker Rödder begründet seinen Nobelpreisvorschlag mit der Rolle, die Kohl bei der deutschen Einheit gespielt habe. Dass der Wiedervereinigungsprozess friedlich verlaufen sei, dazu habe der damalige Kanzler wesentlich beigetragen. Mit dieser Argumentation könnte auch Egon Krenz, der sich im Politbüro der SED gegen eine militärische "Lösung" der DDR-Krise gewandt hatte, den Nobelpreis verlangen. Diese lustige Koinzidenz fällt Rödder nicht auf. Das liegt an seinem verengten Verständnis von Geschichte.

Denn die Hymne auf den Bimbes-Kanzler, den Jünger-Freund und SS-Gräber-Besucher Kohl verbrämt Rödder mit einem Verweis auf das
Hambacher Fest, in dessen Sinn Kohls Verständnis von Nation läge. Als sich im Mai 1832 dreißigtausend Menschen am Hambacher Schloss versammelten, die sich in scharfer Opposition befanden, die Meinungs- und Pressefreiheit forderten und religiöse Toleranz. Zu unterstellen, ausgerechnet Kohl habe mit dieser, Hambacher Fest genannten, systemkritschen Masse irgendetwas zu tun ist entweder von Unkenntnis geprägt, was bei einem Historiker zum Entzug der Lehrberechtigung führen sollte. Oder von bewusster Manipulation, was bei einem Vorstandsmitglied der "Konrad-Adenauer-Stiftung" sicher unter gewöhnlich Lobby-Arbeit fällt.

Einverstanden: Helmut Kohl hat keinen Krieg begonnen. Aber, sagt selbst sein beamteter Lobhudler, er habe einen vorbereitet. Weil er den Russen, der damals noch Sowjet hieß, in die Knie zwingen wollte, habe sich Kohl beharrlich für die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen eingesetzt, gemäß dem Spruch si vis pacem, para bellum (Willst du den Frieden, bereit dich für den Krieg vor). Es war eine Mehrheit im westdeutschen Volk, die diesen Beschluss verneinte und gegen deren Willen Kohl den seinen setzte. Das Volk allerdings sieht Professor Rödder nur dann als geschichtsmächtige Kraft, wenn es in sein Konzept passt: Eine plebiszitäre, eine volksabstimmliche Bestätigung habe Kohls 10-Punkte-Programm zur deutschen Einheit gefunden als ihm bei einem Besuch Dresdens im Dezember 1998 zugejubelt wurde. Erst Kohls angebliche Nähe zum revolutionären Volk von Hambach und dann gibt ihm Rödder auch noch einen Volksbonus für ein Programm, wohl wissend, dass der CDU-Mann in den Zeiten seines politischen Lebens ein entschiedener Gegner von Plebisziten war.

Der Historiker Rödder verbreitet seine Geschichtsauffassung in der Hoffnung auf ein kurzes Gedächtnis seiner Leser. Denn natürlich wurde in Kohls 10-Punkte-Programm nicht zur umgehenden deutschen Einheit aufgerufen. Im ersten Punkt dieses ebenso schlauen wie scheinheiligen Dokumentes ist eine Bitte verankert: "Es muss die Möglichkeit bestehen, frei in die DDR ein- und auszureisen. Dies ist eine sachliche Voraussetzung, damit Hilfe im humanitären und medizinischen Bereich greifen kann." War in der DDR die Pest ausgebrochen? Litten die Brüder und Schwestern im Osten Hunger? Oder wollte Kohl nur, im Vorgriff auf die Afghanistan-Expedition der Deutschen, mit der "humanitären Hilfe" einen Einsatz der besonderen Art vorbereiten? Hier wäre der Historiker mit einer ordentlichen Interpretation gefragt. Statt dessen kommt uns Rödder mit schlichter Agitation, mit einer taktischen Umschreibung von Historie.

In der Umdeutung von Wirklichkeit, im Vergessen von jüngster Geschichte, kommt Rödder durchaus seinem Meister nahe. Es war Helmut Kohl, dem in der Flick-Bestechungsaffäre, in die er eindeutig verwickelt war, nichts mehr einfiel. Es war Kohl, der im CDU-Parteispendenskandal seine Wähler beschwieg, seinen Amtseid brach und dem bis heute zu all den düsteren Vorgängen um die CDU-Kasse nichts einfällt. Mit dieser Methode historischer Vergesslichkeit arbeitet auch Professor Rödder. Zum Nobelpreis für Kohl wird es kaum reichen. Aber wenn einmal ein Preis für taktische Amnesie vergeben wird, könnte er, durchaus ex aequo, an den Ex-Kanzler und den Noch-Historiker gehen.