Matthias Matussek, Kulturchef des »Spiegels«, der jüngst noch »den anderen« empfahl die Deutschen gern zu haben, ist betrübt: "Der Sommer des schwerelosen jungen Deutschland« sei vorbei »abgelöst vom Herbst des alten.« Weil sich, mit Büchern von Grass und Fest, die Flakhelfer-Generation zu Wort gemeldet habe. Der Kulturmelder Matussek weiß auch, dass Günter Grass ein »rasender Mitläufer war«, während Joachim Fest ein »Nicht-Mitmacher« gewesen sei.

Wer dem Günter Grass »Beim Häuten der Zwiebel«, so der Titel seiner Autobiografie, über die Schulter liest, wird ein Buch finden, das sich der Hysterie der Debatte um die Frage, warum der Dichter erst jetzt bekennt in einer Einheit der Waffen-SS gedient zu haben, entzieht. Weder das Buch noch der Grass sind auf die zwei Runen an der Uniform zu reduzieren. Mit Grass kehren wir in das Danzig seiner Kindheit zurück, mit ihm stellen wir die Frage nach Schuld und Sühne, der des Autors und der Deutschen. Mit dem Schriftsteller erinnern wir ein langes, schwieriges Stück Deutschland, von den Vierziger Jahren bis in die jüngste Zeit.

Der »Stern« verkündet auf seiner Titelseite den »Fall des Moralisten« Grass, der »Spiegel« zeigt ihn als Trommler auf einen Helm mit den SS-Runen und die Sonntags-«FAZ« konstatiert »jetzt wendet sich das Werk gegen seinen Autor«. Der »FAZ«-Autor ist das Muster für die wütende Hatz der Grass-Jäger, er schreibt über einen »blinde(n) Eifer, mit dem er (Grass) sich einem sozialdemokratischen Antifaschisten angedient habe« und meint Willy Brandt. Damit nicht genug, kreidet er dem Schriftsteller die »manische Warnung« vor der NSDAP-Mitgliedschaft des Kanzlers Kiesinger an.

Es war im Wahlkampf 1969, für die CDU kandidierte Kurt Georg Kiesinger, für die SPD wollte Willy Brandt Kanzler werden. Wir zogen nachts, mit Kleister und Malerpinsel bewaffnet los und klebten dem plakatierten Kiesinger einen weißen Zettel über, auf dem war dessen NSDAP-Mitgliedsnummer aufgedruckt. Kiesinger war als Erwachsener schon 1933 Mitglied der Nazi-Partei geworden, Günter Grass ist gegen Ende des Krieges, als 17-jähriger zur Waffen-SS eingezogen worden. Das ist der FAZ ein Gleiches und eine ganze erste Feuilletonseite wert: Die Debatte um die Position der Republik, der Kampf darum, wer was wann erinnern darf, ist ganz unten angelangt, dort wo die Verleumdung wohnt.

Grass geht in seinem jüngsten Buch streng mit sich ins Gericht. Weit vor seiner SS-Soldatenzeit befragt er das Kind Günter nach den Verschwundenen aus dessen Umkreis: Dem polnischen Onkel, den sie standrechtlich erschossen hatten und der in der Familie beschwiegen wurde, nach dem Schulfreund, dessen Vater ins KZ kam, der verschwand und den der junge Grass nicht vermisste, nach der Gläubigkeit, mit der er als Heranwachsender die Lügen der Nazis für die deutsche Wahrheit hielt.

Matussek, der doch in seinem Buch gerade die Deutschen als aller Welt Darling beschrieben hat, kann das Grasssche Buch nur als »Skandal« werten, als »Brocken aus verhobenen Kunsteitelkeiten und kokettem SS-Geständnis«. Deshalb ist ihm die freiwillige Meldung von Fest zur Luftwaffe weniger schuldhaft, als die Verpflichtung von Grass zur Waffen-SS. Wer sich an die vom Lektor Fest schöngefärbte Speer-Biografie erinnert, wird im Grassschen Buch den anderen deutschen Blick auf die eigene Geschichte erkennen, auch und gerade im Kapitel »Wir-tun-sowas-nicht«, über einen jungen Zeugen Jehovas, der während der militärischen Ausbildung im Reichsarbeitsdienst keine Waffe anfassen will. Während Fest dem Speer, dem Leibarchitekten Hitlers, einen Maskenball als Schöngeist gestattet, setzt Grass dem Jungen der »so was nicht tut« ein kleines, liebevoll erzähltes Denkmal.

Wem gehört die Republik, über was soll sie debattieren, für was Partei ergreifen? Diese Frage beantworten die Schriftsteller Eva Menasse und Michael Kumpfmüller in der »Süddeutschen Zeitung« mit »weniger Grass und mehr Nahost in der Debatte«. Sie warnen vor einem »Methusalem-Komplott" und fürchten: »Es bleibt für die Jüngeren kein Platz«, um dann in schöner Schlichtheit Solidarität mit Israel gegen »mörderischen Fanatismus« einzufordern. - Als Ende der 60er Jahre mit der NPD eine ziemlich offene Nachfolgeorganisation der NSDAP auf den Plan trat, mit Abgeordneten in einer ganzen Reihe von Landesparlamenten, mit Bundestagswahlergebnissen nahe der Fünf-Prozent-Grenze, da waren es zumeist Jüngere, die der NPD kaum einen öffentlichen Platz ohne Kampf überließen. Und es waren Ältere wie Grass und Böll, die sie darin bestärkten.

Wenn man im Grassschen Buch die lange Passage über einen Kochkurs in der amerikanischen Gefangenschaft überstanden hat, die sich aus einem ähnlich langen, aber weniger langweiligen Kapitel über den immer währenden Hunger der Gefangenen erklärt, gelangt man in eine selten saftig beschriebene Nachkriegszeit, erfährt man von den Entwurzelten dieser Generation, teilt man deren Sucht nach dem Lebenwollen. Es ist bester Grass, wenn er sich und seine Umgebung an der Düsseldorfer Kunstakademie als Poseure des modischen Existenzialismus beschreibt, als solche, die sich immer am Abgrund sahen, an Scheidewegen und deshalb, wie ihre französischen Vorbilder, unbedingt eine an der Unterlippe klebende Zigarette brauchten.

»Muss Grass jetzt den Nobelpreis zurückgeben?« fragt der Spiegel und macht den Autor dafür verantwortlich, dass »Aus einem beschwingten WM-Sommer, in dem sich ein vergnügtes Deutschland gezeigt hatte, ...die finstere Vergangenheit herausmarschiert.« Die Herrenschreiber lesen nicht, sie reiten Parforce durch Bücher, um ihren Vorurteilen nachzujagen. Wohl deshalb sind ihnen die eindringlichen, ebenso heiteren wie wehmütigen Portraits der Grass-Freunde Franz Witte und »Flötchen« Geldmacher entgangen, die kämpferischen, antiklerikalen Seiten über Grass Schwester, die er aus den Fängen eines Klosters rettete und die unbedingt köstliche Geschichte, in der Grass zu beweisen sucht, dass er mit Joseph, dem späteren Kardinal und noch späteren Papst, dem damals einfachem Soldat Ratzinger im selben Gefangenenlager gewesen sei und über Gott und die Welt diskutiert habe, Joseph aber eher über Gott.

Es ist erstaunlich wie der nicht mehr junge Günter Grass, den wir schon damals, in den 60ern den Alten nannten und auch gerne »Goethes Stellvertreter auf Erden«, um seiner literarischen Autorität zu entgehen, die Republik immer noch zu bewegen weiß. Das kann man von dem seichten Schaum, den Herr Matussek absondert kaum behaupten. Aber Bewegung braucht das Land. Erst recht zu Zeiten einer Kanzlerin, die auf einem ersten Höhepunkt des Nahostkrieges ihr Krisenkabinett nach Bayreuth holt, weil sie den Festspielort nicht verlassen kann: Ihr schweinchenrosa Kleid musste noch spazieren geführt werden. Auch dazu gibt das Grasssche Buch einen vorauseilenden Kommentar: »Sonst ist mir von Bayreuth und dem widerlichen Getue des neureichen Pöbels im Umfeld der monströsen Kulturscheune nur den Lachnerv reizender Ekel geblieben.«

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