Wir machen es uns manchmal schwer.
Das zeigt, dass wir es uns nicht leicht machen.
Hubertus Heil, 34. SPD-Parteitag in Dresden

Einige Wochen vor dem SPD-Parteitag in Dresden traf sich, abgeschirmt von jeder Öffentlichkeit, eine kleine Gruppe von führenden Sozialdemokraten. Das Protokoll dieses klandestinen Treffens wurde der RATIONALGALERIE zugespielt. Da sich die Beteiligten nur mit Vornamen angesprochen haben, ist ihre Identität schwer festzustellen. Die im Protokoll notierten Zitate - in diesem Text kursiv ausgewiesen - tauchten allerdings alle in den Beiträgen oder Dokumenten des Parteitags auf. - Das Protokoll:

Also, Franz, was machen wir nun? Zwei Legislaturperioden als führende Regierungspartei, eine Wahlperiode in einer Koalitionsregierung, Wähler und Mitglieder laufen uns seit Jahr und Tag weg, da muss doch mal was drüber gesagt werden. - Weißt Du, Walter, Reue ist Mist, als erstes tun wir mal so, als wären wir völlig überrascht von der Schwindsucht, die unsere Wähler befallen hat. Deshalb steigt der Hubert zu Beginn des Parteitags ein und sagt, das alles ganz schwer ist und wir es uns deshalb nicht leicht machen. Das ist wie Philosophie, hört sich intelligent an und die Delegierten haben ganz schön was zu knabbern! Ist das klar, Andrea? - Ja, was denkst Du denn, trotzdem müssen wir scheinbar klare Positionen im Leitantrag formulieren: Beim Einsatz in Afghanistan bleiben wir dabei, dass in dieser Legislaturperiode die Grundlage für den Abzug der Bundeswehr geschaffen werden muss. Das schiebt die Entscheidung auf das Jahr 2020, ein prima Datum. Und ich hab dann die Rente mit 50 durch. Also los, Siggi, das könntest Du doch offensiv vertreten.

Das ist genial, damit setzen wir den Parteitags-Klatschomat in Gang, das rührt. Aber erstmal muss der Franz, zur Erklärung der Niederlage sowas sagen wie Der Wille, tiefer zu schürfen, was die Gründe dafür sind, ist verständlich und nötig. So ein tiefes Schürfen kann ganz schön lange dauern, so zeigen wir Verständnis und lassen uns auf nichts festnageln. Was meinst Du Walter? - Hauptsache ich muss nicht über früher reden, diese Mitglieder erinnern sich sonst daran, dass ich die Agenda 20/10 erfunden habe, wir haben im Leitantrag, ganz vorne, doch extra die Formulierung Wir blicken auf elf Jahre zurück, in denen wir in Deutschland erfolgreich Regierungsverantwortung wahrgenommen haben. Ich lass mir doch den Erfolg meiner Jahre im Amt nicht kaputt machen! Aber wie kommen wir vom Wunsch der Delegierten nach wirklich inhaltlichen Positionen runter, hast Du ne Idee, Hubert?

Das ist völlig einfach (kichert), die Inhalte packen wir in die Fragen des Leitantrags: Wie sieht es mit gleichen Bildungschancen aus? Gibt es eine gute Kinderbetreuung? Warum verlassen so viele Schüler die Schule ohne Schulabschluss? Hat jeder einen Berufsabschluss oder Abitur? Können alle von ihrer Arbeit leben? Gibt es die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs durch eigene Anstrengung? Da denkt jeder, wir beschäftigen uns mit den Themen ernsthaft und schon sind alle beruhigt. Wer fragt, muss keine Antwort geben. Hast Du das verstanden, Andrea? - Aber dazu hätten wir doch in den 11 Jahren Regierungsverantwortung Antworten finden können, oder? - Liebe Andrea, das ist doch gerade der Trick: Wir geben uns nachdenklich nach der Niederlage, das kommt immer gut. Zum Beispiel: Das Thema Jugendgewalt werden wir aufgreifen: Die (oftmals) einhergehenden sozialen Ursachen müssen identifiziert werden, um ihnen mit einem Präventionskonzept erfolgreich entgegentreten zu können. Da glauben doch alle, wir hätten eine soziale Analyse und, besser noch, wir würden was gegen die sozialen Ursachen tun wollen. - Hubert, Du bist genial.

Das weiß ich doch, aber wie verkauft sich bloß Siggi als neuer Mann, der war doch die Hoffnung von Schröder auf die Fortsetzung der Agenda 2010 mit den selben Mitteln? - Na, ich mach mich klein und sage vorneweg: Selbst einer wie ich hat Lampenfieber, das hört sich doch bescheiden an, dann trete ich auf die Bremse: Ich habe keine schnellen Lösungen. Das ist doch clever, Franz, oder? - Clever schon, aber noch nicht süffig, da muss dem Siggi schon mehr einfallen! - Keine Frage, ich führe einfach ein neues Wort in die Debatte ein und rufe den Delegierten zu: Es geht um Deutungshoheit. Das kennt keiner, da denkt jeder, wenn ich das bedeutungsschwere Wort an die zehn mal in meinem Beitrag wiederhole, ich hätte mir was dabei gedacht, verstehst Du, Franz? - Ich schon, aber für die Delegierten muss schon irgendwas mit "links" in deiner Rede drin sein, Siggi. - Kein Problem. Ich sage einfach: Links heißt Freiheit und Verantwortung! - Stimmengewirr, dann chorisch Franz, Walter, Andrea und Hubert: Aber Freiheit und Verantwortung, das ist doch ein Slogan der FDP, das fällt auf, das kannst Du nicht sagen Siggi. - Was solls, die FDP hat Wahlen gewonnen, darauf kommt es an!

Und so tagte denn der SPD-Parteitag und wählte und war mit sich zufrieden. Draussen streikten die Studenten, deren Streik ebenso wenig einen Platz in den Anträgen und Großreden gefunden hatte wie die Obdachlosen und die dank der SPD gewachsene Schere zwischen Arm und Reich oder die Toten im Afghanistan-Krieg, der natürlich im Leitantrag auch nur Einsatz hieß. Also machte die SPD einfach dort weiter, wo sie vor Jahren begonnen hatte: Man versuchte ein leckes Schiff trocken zu reden.