Es war 1954, ein sonniger Tag in einem Arbeitervorort einer rheinischen Großstadt. Niemand war auf der Straße, eine Sonntagsstille lastete auf den Genossenschaftshäusern. Der Ball versprang mir, als ich ihn gegen die Mülltonne kicken wollte. Schuld war nicht ich, schuld war ein vielfacher Schrei aus zig offenen Fenstern, aus Räumen, in denen Radios standen: "Tor! Tor! Tor!" Der Ton war mir unangenehm, so ähnlich brüllten besoffene Männer, wenn sie freitags ihren Lohn vertrunken hatten und, häufig genug, zu einer Bedrohung für ihre Frauen wurden. Am Tag danach kam mein Vater aus der Schweiz zurück, er war mit Kollegen in Bern gewesen, in dem Stadion, in dem die Deutschen Fußball-Weltmeister geworden waren. Jahre später wurde behauptet, dieser Tag sei der Wiedergeburtstag der Nation gewesen.

Wieder ist Fußballweltmeisterschaft. Fahnen werden geschwenkt, fröhliche Leute laufen über Plätze und durch Fernsehbilder. Eine Debatte über den neuen oder sogar erstmaligen Patriotismus der Nachkriegsrepublik schwillt an. Innenminister Schäuble sagt: "Wir fangen schon fast an, uns selber zu mögen." Mich mag ich schon, eine Reihe von Kumpels, darunter nicht wenige Deutsche, auch. Schäuble mochte ich noch nie, nicht einmal fast, nicht einmal weil wir die Weltmeisterschaft im Land haben. Der Schriftsteller Thomas Brussig entdeckt in diesen Tagen einen Patrioten neuer Prägung. "Schon vor Monaten", sagt Brussig, "haben wir Deutschen beschlossen, dass diese viereinhalb Wochen etwas besonderes sein werden." Da muss ich gerade woanders gewesen sein.

Schokolade brachte mein Vater damals aus der Schweiz mit. Echte Schweizer Schokolade, die hatte sogar einen Namen, der las sich ganz anders, als man ihn sprach: Süchar, las meine Mutter vor und ich lernte das erste ausländische Wort meines jungen Lebens. Es war die beste Schokolade der Welt, zart und schmelzend, sie schmeckte wie Geburtstag, lange Zeit wäre ich gern Schweizer geworden. Wie ich wenig später gern Holländer geworden wäre. Die Ferien an den breiten Nordseestränden der Holländer, deren wunderbar saubere, pittoreske Häuser, die nicht zerstörten Städte und diese entzückenden, immer flachsblonden Mädchen mit den kräftigen, weissen Zähnen machten einen tiefen Eindruck auf mich.

Der holländische Entertainer Herman van Veen, freut sich über den neuen, entspannten Umgang der Deutschen mit ihrem Patriotismus, die englische "Times" meint, Deutschland habe, "wie jede frühere Großmacht, das Recht, sein Dasein zu feiern." Es ist ein Ton von Erleichterung, der die Kommentare durchzieht, so, als habe man erwartet, es hätte auch ganz anders kommen können. Als es den Staat Jugoslawien noch gab, besuchte ich ein inzwischen museales Lazarett der jugoslawischen Partisanen in einer engen Schlucht, nicht weit vom See Bled. Tarnnetze überspannten die schmalen Pfade. Hätten die Deutschen uns gefunden, erzählte ein Veteran der jugoslawischen Irregulären, dessen Bein Mitte der 40er Jahre in diesem Lazarett amputiert worden war, sie hätten uns alle umgebracht. Gerne wäre ich aus meiner Nation ausgestiegen. Aber längst hatte ich sie angenommen, zufällig hineingeboren, das Beste daraus gemacht.

Wir sangen im Ton von gregorianischer Kirchenmusik "Kanzler wir kommen - fürchte Dich, wir holen Dich" auf der Demonstration gegen die Notstandsgesetze, die erste einschneidende Änderung der Verfassung der Bundesrepublik. Es war Ende der 60er Jahre in Bonn und viele Polizei-Hundertschaften sorgten dafür, dass wir den Kanzler nicht zu fassen kriegten. Wir, junge Deutsche, die sich in ernstem Patriotismus dem Schutz ihrer Verfassung widmeten, hätten ihm nichts getan, dem Kanzler. Aber das konnte die Polizei nicht wissen. Die Zeitungen jedenfalls ernannten uns zu Verfassungsfeinden, bärtig und langhaarig wie wir waren. "Geht doch nach drüben," skandierten ordentliche Bürger am Straßenrand. Das empörte uns, mit der DDR hatten wir nichts zu tun, das war ein anderes Deutschland. Immerhin, lange hatten wir zwei davon.

Unter der Münchner Wittelsbacher Brücke, weiß die "Süddeutsche Zeitung" zu berichten, sitzen in diesen Tagen der Fußballweltmeisterschaft Obdachlose und schauen sich die Spiele im Fernsehen an. Auf einem Foto ist eine schwarz-rot-golden Fahne zu sehen. Wir stehen hier, zitiert der Journalist einen der Obdachlosen, weil wir hier geboren sind, weil das unser Vaterland ist. Nicht weit von diesem Artikel entfernt wird Gregor Gysi zitiert, der meint, seine Generation habe ein "gestörtes Verhältnis zur nationalen Frage" und solle "einfach mal den Mund halten". Alle wollen dabei sein, wenn Deutschland sich freut, alle Unterschiede scheinen verwischt, man kennt scheinbar keine Parteien mehr, nur noch Deutsche.

Bisher habe ich alle Spiele der deutschen Mannschaft während der Weltmeisterschaft gesehen. Den Spielern verspringt fast nie der Ball, es ist ein Vergnügen, sie beim Kicken zu beobachten. Es gibt viel Zeit zwischen den Spielen, ausreichend um zu lesen, dass der Finanzminister die Einkünfte aus Kapitalvermögen deutlich niedriger besteuern will als bisher. Jeder, der rechnen kann, weiß, dass es im Gefolge der Pläne des Finanzministers demnächst unter den Brücken mehr Obdachlose geben wird. Es wird ein wenig enger werden. Im Winter, wenn dann keine Weltmeisterschaften mehr sind, ist das gut, man kann sich gegenseitig wärmen. Und jeder, der sich weder den Mund verbieten lässt noch das Denken, der weiß, dass es in einer Nation eigentlich immer zwei gibt: Die da oben und die da unten.